Neoklassik-Star

Max Richter: „Meine Stücke spiegeln die tristen Zustände unserer Zeit“

Der deutsch-britische Komponist Max Richter macht Musik für sensible Intellektuelle, sorgte für einen der besten TV-Soundtracks der letzten Jahre und schätzt Franz Kafka.

Max Richter schüttelt minutenlang seine Hände aus. Der Komponist hat in der Berliner Philharmonie soeben sein Album „The Blue Notebooks“ in voller Länge aufgeführt und sich dabei am Klavier so sehr verausgabt, dass die Finger schmerzen. Zur Zeit tourt der in Deutschland geborene, aber in Großbritannien aufgewachsene Musiker durch die Welt, um noch einmal an seine musikalischen Anfänge zu erinnern. Keine Fingerübung, sondern der Versuch, das eigene Schaffen so akribisch wie möglich auf der Bühne aufzuführen.

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Inzwischen gilt Richter als Speerspitze einer neuen Bewegung der Klassik, die sich sanft von alten Traditionen löst und elektronische Klänge und sogar Progressive-Rock-Elemente integriert. Unter dem Genrebegriff „Neo-Klassik“ werden so unterschiedliche Künstler wie Nils Frahm, Ludovico Einaudi oder Ólafur Arnalds subsummiert. Sie alle eint die Suche nach Calm Vibes: oft schwermütig anmutende Crossover-Klänge, die Patterns der Popmusik mit bekannten Mustern der Klassik kombinieren.

https://www.youtube.com/watch?v=t8vVkAu7DRo

Stiller Protest gegen politischen Wildwuchs

Die Stücke von Max Richter sind dabei nicht denkbar ohne jenes melancholische Grundrauschen, für das manche Kritiker durchaus Spott übrig haben. „Das Melancholische ist eine Reaktion auf das, was um mich herum passiert“, sagt der 52-Jährige nachdenklich. „Ich suche nach den großen Fragen und nehme sie ernst. Deshalb klingen meine Stücke oft traurig. Sie spiegeln die tristen Zustände unserer Zeit.“

Mit „The Blue Notebooks“ reagierte Richter zur Entstehungszeit im Jahr 2003 auf den Irak-Krieg. Dafür ließ er die Schauspielerin Tilda Swinton Auszüge aus den Tagebüchern Kafkas vorlesen, dem „König der Zweifler“ (Richter). Die politische Komponente spielt für den Komponisten eine wichtige Rolle. „Während unsere Welt immer gefährlicher und lauter wird, möchte ich dieser skrupellosen Rhetorik mit einem stillen Protest begegnen“, sagt er. Auch wenn seine Stücke oftmals emotionale Ausnahmezustände spiegeln, fühlt sich Richter den Prinzipien des künstlerischen Minimalismus verbunden – weil er bewusst „keinen Müll produzieren“ wolle.

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Richter widmet sich auch überraschend häufig literarischen Vorbildern. Zuletzt vertonte er Werke von Virginia Woolf und ließ die Schriftstellerin mit einer seltenen Tonbandaufnahme selber zu Wort kommen. Vielleicht sogar seine ambitionierteste Arbeit. Stimmen sind dabei nur eines von vielen Found-Sound-Elementen, die der Brite collageartig in sein Werk integriert. Auch deshalb begeistert er sich für die deutschen Elektrotüftler der 70er – wie Kraftwerk, Neu! und vor allem CAN. Richter: „Elektronische Musik ist inzwischen wohl das, was klassische Orchestermusik im 19. Jahrhundert war.“

Bloß kein Klingelton-Schicksal

Musik sei für ihn Kommunikation – und deshalb müsse sie verständlich sein, meint der Brite. „Meine Werke sind oft kompliziert komponiert, aber ich tue alles dafür, dass sie meinen Zuhörern die Möglichkeit geben, sich ihre eigenen Gedanken dazu zu machen.“ Dafür lässt er sich auch von Punk und Techno inspirieren. Während der Komponist ersteres Genre schätzt, weil es als soziale Bewegung die Menschen zusammenbringe, bot ihm letzteres neue künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten.

In den frühen 90ern arbeitete Richter mit dem Ambient-Projekt Future Sound Of London zusammen und entwickelte so ein neues Gehör für die grundsätzliche Offenheit musikalischer Strukturen. „Das war gar nicht so einfach, denn ich habe Jahre damit zugebracht, immer wieder dasselbe zu spielen und es bis zur Perfektion zu treiben.“

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So sehr der Komponist inzwischen auch ein Publikum anspricht, das für gewöhnlich Kammermusiksäle meidet, bleibt doch der Eindruck haften, dass er Tonschöpfungen für sensible Intellektuelle macht, die sich für seine Musik auch gerne auf Feldbetten in den Schlaf säuseln lässt („Sleep“).

Max Richter spielt, seine Zuhörer schlafen dazu ein
Max Richter spielt (hier in New York), seine Zuhörer schlafen dazu ein

Dazu passt auch seine vielbeachtete Rekomposition von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Der Versuch, seine erste musikalische Liebe von dem Elend zu befreien, ein unwürdiges Schicksal als Klingeltonvariation zu fristen und nach eigenen Angaben eine einmalige Angelegenheit. „Ich habe unzählige Angebote für weitere Neuvertonungen bekommen. Ich habe sie alle abgelehnt.“

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Erfolg mit Kompositionen für Film und TV

Seit Jahren weitet sich auch Richters Katalog an Kompositionen für Kino und Fernsehen, darunter der preisgekrönte Score für den Animationsfilm „Walz With Bashir“ und die Musik zur HBO-Reihe „The Leftovers“. Die Serie, die von einer Welt erzählt, in der von einem Tag auf den anderen zwei Prozent der Menschen verschwinden, wäre ohne Richters Klänge nicht denkbar. Seine Musik treibt die Handlung regelrecht voran, kommentiert und stimuliert sie. Eine ähnliche Wirkung erzielte ein TV-Soundtrack zuletzt eigentlich nur „Twin Peaks“ (Angelo Badalamenti).

https://www.youtube.com/watch?v=eNCakQn_0hE

Richter stolz: „The Leftovers ist ein Ereignis, eine der besten Serien, die ich kenne. Sie hatten für die Pilotfolge einen Track von mir verwendet und kamen später auf mich zu. Ich war begeistert von der Story und musste es einfach machen.“ Bis heute habe er trotz aller Bedenken stets nur Projekte verwirklicht, die seinen eigenen (politischen und künstlerischen) Ansprüchen genügen konnten, sagt Richter. Er lacht, als wüsste er, dass die Zweifel trotzdem nicht verschwinden werden.

Der Autor beschäftigt sich einen Großteil seines Lebens mit melancholischen Klängen. Folgen Sie ihm, wenn Sie mögen, auf Twitter und auf seinem Blog („Melancholy Symphony“).

Deutsche Grammophon
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