Mein Pete-Album

Heinz Rudolf Kunze über das grundstürzende Doppelalbum, ,Tommy“ der Who von 1969, das auch seinem Vater gefallen hat

Heiligabend 1969. Vor drei Wochen bin ich 13 geworden. Nachdem alles überstanden ist – Kirche, Bescherung, familiäres Liedersingen, Schweinebraten, gemütliches Beisammensein à la Loriot – ziehe ich mich in mein winziges Kinderzimmer zurück und lege das Geschenk auf, das mir meine Oma gemacht hat: „Tommy“ von The Who. Ich stelle die Musik laut. Und nach wenigen Minuten, ich kann mir nicht helfen, noch lauter. Die Tür geht auf und mein Vater kommt herein, gut gelaunt nach einigen Asbach Uralt. Er setzt sich neben mich auf die Couch, staunend. Plötzlich sagt er: „Wagner. Das ist ja wie Richard Wagner.“

Vater gehörte zur Gerade-eben-noch-Kriegsgeneration, so wie Günter Grass. Knapp ein Jahr später, als er mit mir das Who-Konzert in Münster verlassen hat, stößt er hervor: „Das klang wie damals, als wir angegriffen haben.“ Ein makabrer Satz, aus heutiger Sicht nahezu unerträglich. Aber er meinte es herzensgut. Ein größeres Lob fiel ihm einfach nicht ein. Er war Who-Fan geworden. Als Keith Moon starb, hat er aufrichtig mit mir getrauert. Als John Entwistle starb, war er nicht mehr am Leben.

„Tommy“ ist ein Doppelalbum. Es war eine gute Zeit für Doppelalben, die Beatles, Cream, Hendrix hatten welche vorgelegt, das Medium Schallplatte expandierte. Bei den Who ging es aber nicht nur ums Quantitative – Pete Townshend hatte etwas ersonnen, dem man den problematischen Begriff „Rock-Oper“ anheftete: Songs mit rotem Faden, mit Haupt- und Nebenfiguren, mit so etwas wie einer Handlung.

„Tommy“, die Geschichte eines missbrauchten, schwerbehinderten Jungen, der weder hören noch sehen noch sprechen kann, durch seine magischen Fähigkeiten am Flipperautomat zum Jugend-Idol wird und eine quasireligiöse Gemeinde um sich schart, die aber letztlich ≠von ihm abfällt, war innerhalb der Rockmusik etwas grundsätzlich Neues. Das Album katapultierte die Band endgültig in den Superstar-Olymp – und es war ihre letzte Rettung, denn The Who befanden sich in einer Sinn- und Existenzkrise. Selten ist es gelungen, die unfassbare Wucht dieser Band im Studio einzufangen. Auch bei „Tommy“ nicht wirklich. Manches klingt unausgegoren. Aber die Zutaten des klassischen Who-Sounds sind vorhanden.

Vergleichbar Großes ist geschaffen worden. Größeres nicht. Bis auf „Who’s Next“ natürlich.

Heinz Rudolf Kunze ist Musiker, Songschreiber, Who-Fan und Autor

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