Nachsitze n fürs Jodeldiplom

Die Gesangs-Arabesken auf ihrer neuen Platte sieht Björk auch ein bisschen als Bildungsauftrag: Jeder Onkel kann Disco singen, wenn er sich traut

Natürlich trägt sie wieder eines dieser avantgardistisch verdrehten Designerkleider, ihre märchenhaften Stiefeletten sind mit samtigen Bändern kompliziert umwickelt. Trotzdem wirkt Björk wie ein freundliches Landmädchen: Die Haare sind altmodisch geflochten, das lebhaft rundliche Gesicht ungeschminkt. Sicher hat sie es nie so schwer gehabt wie Courtney Love oder Yoko Ono, doch viele halten die 37-Jährige für berechnend und kalt, andere für eine durchgeknallte Spinnerin. Und seit dem Streit mit Lars von Trier über „Dancer In The Dark“ gilt Björk auch noch als Zicke, die im derangierten Schwanenkleid zur Oscar-Verleihung stolziert.

Auf ihrem neuen Album „Medulla“ hat die Königin des abstrakten Popsongs komplett auf alle Instrumente verzichtet. Es wird gesungen und zwar ausschließlich und vielstimmig. Vom Gegrunze Mike Pattons über die Human Beatbox des ehemaligen Roots-Mitgliedes Rahzel bis hin zum Kehlkopf-Gesang des Eskimos Tagaq. Lediglich bei „Ancestors“ spielt die Isländerin ein wenig Piano: „Als Kind hasste ich Klavierstunden. Für mich hatte das etwas Spießiges, Biederes und Sauberes. Vor zwei Monaten habe ich mir dann trotzdem eines gekauft. Ich hätte die Pianomelodie natürlich leicht mit meinem Gesang ersetzen können. Aber Rahzel erzählte mir, das Piano sei das einzige Instrument, das sich mit der menschlichen Stimme nicht imitieren lässt. Die Ausnahme von der Regel. Das hat mir gefallen.“ Vor Aufregung fährt sich Björk immer wieder mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihr Blick fragt: Ist das alles nachvollziehbar?

Es war eher ein Zufall, dass Björk beim Hören erster Roh-Mixe von „Medlla“ eine Aufnahmespur nach der anderen stumm schaltete. So lange, bis kein einziges Instrument mehr zu hören war. Obwohl die Programmierer Mark Bell und Matmos diese Gesänge, wie schon auf früheren Björk-Platten, durch ihre Laptops jagten, handelt es sich bei „medulla“ um eine Art ausgedachte, vage nordisch inspirierte Folklore: „Ich wollte alles Mögliche machen, aber bloß kein Yoko-Ono-Avantgarde-Album, wo alle Stimmen so klingen wie „Ooooweeeehhhiiieeoouuuu.“ Sie quietscht, schnaubt und trötet, als wolle sie unbedingt zeigen, wie sehr sie abgehoben prätentiöse Musik hasst. Auch von Elektronica hat Björk zur Zeit die Nase voll: „Klar, es gibt noch immer tolle Sachen, aber in den meisten Fällen ist das so verdammt ängstlich. Wer heute trendy sein möchte, holt sich einfach einen Haufen analoger Synthesizer und alle finden die Musik toll. Nein!“ Stattdessen fordert die Exzentrikerin ihre Mitmenschen in Bars zum Singen auf: „Einer macht die Bassline, ein anderer das Hi-Hat, und so weiter. Coverversionen von Rave-Songs sind das Beste! Und je betrunkener alle sind, desto besser klappt das.“ Zum Beweis grölt sie umgehend „I got the power!“ und macht dazu Geräusche, die normalerweise nur Kinder und komplett Besoffene hinbekommen. „Das ist etwas, das mich in den letzten zwei Jahren sehr glücklich gemacht hat. Selbst dein Onkel ist in der Lage, seinen liebsten Disco-Song zu singen.“

Björk möchte, dass man die Lieder von „Medulla“ als Folk versteht „Leute mit akustischer Gitarre, die Bob-Dylan-Songs spielen, das ist doch bloß ein Klischee. Wenn ich mir eine Gitarre schnappen würde und jemand anderes ein Tamburin, dann wäre das unmöglich: die Imitation von jemandem, der jemand anderen imitiert Singen macht auch ohne Gitarre Spaß, wenn man betrunken ist. Die Hooligans beim Fußball machen das ja auch. Aber letztlich geht es mir um zwei Dinge: Das Abenteuerliche – ich ziehe das Wort dem Begriff ‚experimentell‘ vor – und Folk, weil es ja für alle sein soll. Ich mag Elitismus nicht besonders. Deshalb hoffe ich sehr, dass noch mehr Menschen ihre Stimmen erheben.“

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