Nächste Station Stadion

Ein pissoir, in dem sich bier verköstigen und neue Musik aufschnappen lässt, findet sich nicht in jedem Reiseführer. Anno dazumal eine viktorianische Toilette, empfängt der Temple in Manchesters Innenstadt heute weniger bedürftige Besucher. Elbow-Gitarrist Mark Potter freut sich diebisch, wenn er sich an ein bestimmtes Utensil aus seiner Zeit als Manager dieser Bar erinnert: „Es gab da den sogenannten ‚Fuck-Off-Knopf‘.

Der kam immer zum Einsatz, wenn jemand einen schlechten Song in der Jukebox gedrückt hatte. Dann herrschte Stille!“ Zu erkennen gibt sich die Kneipe von außen lediglich durch einen steilen Treppenabstieg.

Wer sich also noch wundert, was es mit den Worten „There’s a hole in my neighbourhood down which of late I cannot help but fall“ aus dem Elbow-Klassiker „Grounds For Divorce“ von 2008 auf sich hat – dies dürfte als Erklärung dienen. Und die Band wäre ohne diese winzige Schankstube eine andere. Viele solcher Zeilen von Songschreiber und Sänger Guy Garvey sind wiederum ein paar Straßen weiter im Night &Day Café entstanden. Das ist der nächste Ort, den wir bei einer kleinen Exkursion durch das Northern Quarter in Manchester passieren. Hier nahm auch der erste Plattenvertrag Elbows mit Island Records Formen an. Im Northern Quarter gibt es kaum einen Laden, in dem Elbow nicht ihre Duftmarke gesetzt haben. Im Roadhouse beispielsweise jobbten einst vier der fünf Bandmitglieder. Dort spielten sie ihren ersten Gig unter ihrem jetzigen Namen, nachdem sie sich 1991 als Mr. Soft gegründet hatten, später nur noch Soft hießen und funky Art Rock spielten.

Heute kann Guy Garvey nicht mehr unerkannt irgendwo in Manchester herumsitzen und Songtexte schreiben. Jeder fühlt sich bemüßigt, ihn anzusprechen oder auf die Schulter zu hauen. Denn erstens ist er berühmt, steht seine Band kurz vor dem Sprung in die Stadionrockliga, und zweitens ein unfassbar freundlicher Rockstar! Man möchte Garvey mit seiner bärigen Statur, seinem offenen Blick und seinen feinen Manieren auf der Stelle umarmen. „Er macht das wirklich hervorragend“, lobt Bassist Pete Turner. „Für alle hat er ein nettes Wort übrig.“

An der tiefen Verankerung Elbows in Manchester wird sich trotz des Erfolges nichts ändern. Schon gar nicht mit Veröffentlichung des sechsten Albums „The Take Off And Landing Of Everything“, über das Garvey zunächst zwei Monate lang in Manhattan sinnierte. „Allein durch meinen Akzent ist die Platte hier tief verwurzelt“, lacht „Garv“.“Und dass ich vorübergehend nach New York gegangen bin, hat auch mit meiner Heimatstadt zu tun. Es fühlt sich an, als hätte ich sie betrogen Aber ich bin wieder zu ihr zurückgekehrt! Jetzt spüre ich diese Nervosität: Werden die Fans eine Verbindung zu dem Neuen auf bauen? Gleichzeitig befinde ich mich in einer sehr komfortablen Situation – nämlich genau zu wissen, wo ich stehe.“ Garv hat extrem gute Laune an diesem kühlen Nachmittag. Während das restliche England im Nebelchaos versinkt, reißt in Manchester plötzlich der Himmel auf, und man hört tatsächlich Vögel zwitschern. Hobby-Ornithologe Garvey (Lieblingsvogel: Stieglitz) hat gerade die letzten Vocals für „The Take Off And Landing Of Everything“ aufgenommen, die wirklich allerallerletzten – zu einem Zeitpunkt, an dem die Plattenfirma längst Streams des Albums bereitstellt. „I never promised you a beer garden …“, trällert die Frohnatur, als wir uns schließlich in den Innenhof des Eagle-Inn-Pubs zurückziehen.

Gleich um die Ecke im Stadtteil Salford sind die Blueprint Studios. Sie gehören zu Manchester wie Rave und Old Trafford. „Hässlich? Allein? Unbeliebt? Dann triff andere Loser wie dich in den Blueprint Studios“, wirbt ein Plakat an der Rezeption für freitägliche Schnäppchen-Tarife – die Studioecke, die ansonsten von den Platin-Schallplatten Elbows geziert wird. Die Band hat hier auf fester Basis Extraräume angemietet, das Studio ist so etwas wie das gemeinschaftliche Zuhause.

„Eine wunderbare Alte-Männer-Kneipe“, preist Garvey den Eagle Inn und bestellt sich ein Guinness. Gleich zwei neuen Stücken dient eine Bar-Szenerie als Schauplatz.“What a perfect waste of time“, ehrt Garvey in „My Sad Captains“ das Philosophieren am Tresen und das Wegtrinken des Tages. Als „sad captains“ bezeichnet er diejenigen Freunde und Soulmates, die aufgrund ihres Ablebens oder familiärer Verpflichtungen nicht mehr mit an den Holzplanken, die die Welt bedeuten, sitzen oder stehen können. Den Titel hat sich Garvey übrigens aus Shakespeares Tragödie „Antonius und Cleopatra“ geborgt.

„Charge“ handelt wiederum von einem „old boozer“, einem alten Trunkenbold, der von den Kids im Pub nur verhöhnt wird. Dabei hat er doch ihre Drogen, ihre Musik erfunden. Und überhaupt! Wo bleibt der Respekt? Im Ansatz kennt Garvey diese Situation, wenn am Samstagabend die jungen Komasäufer die Innenstadt unsicher machen. „I’m from another century“, so fühlt er sich dann. „Grundsätzlich sollten wir ohnehin die älteren Leute würdevoller behandeln. Auch die Kids von heute werden irgendwann in der Situation dieses alten Mannes sein.“

Kurz nach der Deadline hat Garvey noch einmal die zweite Strophe des Songs umgeschrieben. Er ist eben Perfektionist. Im Hause Elbow wird alles mit heißer Nadel gestrickt. Artwork? Auch daran wird noch gebastelt, obwohl der Vorverkauf längst auf Hochtouren läuft. Garvey kramt in der Tasche seines schmuddelgelben Anoraks und zeigt das angedachte Bild fürs Cover auf dem Handy: „Seagull Ballerina“, eine surrealistische Collage des Künstlers Graham Watson, die an die Dadaistin Hannah Höch erinnert und „Schwanensee“, kurzerhand an die Küste verlegt. (Am Ende sieht das Cover dann doch anders aus.)

Selbst der Albumtitel wurde auf den letzten Drücker noch einmal geändert – der bisherige, „Carry Her, Carry Me“, musste weichen. „Die Zeile ‚The Take Off And Landing Of Everything‘ hat für mich noch einmal eine ganz neue Bedeutung erlangt, nachdem meine Freundin (die Schriftstellerin und Journalistin Emma Jane Unsworth -Anm. d. Red.) und ich uns getrennt haben“, erklärt der 40-Jährige die Umstände. „T. S. Eliot hat es so formuliert:’Was wir den Anfang nennen, ist oft das Ende. Und ein Ende setzen, ist einen Anfang machen. Das Ende ist da, wo wir anfangen.‘ Dass Emma und ich uns getrennt haben, ist nichts Niederschmetterndes. Nur eine ganz normale Entwicklung, die sich angedeutet hatte. Aber um Emma geht es auch im Titelsong. Als kleines Kind war sie beim Start und bei der Landung eines Flugzeugs immer sehr nervös. So hat sie als Hilfe immer ein Gebet aufgesagt, und das hat sie bis heute beibehalten – aus Aberglauben. Für mich beinhaltet die Phrase wiederum meinen Aufenthalt in New York, meinen Wunsch nach einem neuen Impuls. Gleichzeitig brauchte ich dann aber auch die Rückkehr nach Manchester.“

In New York, wo einige Freunde leben, wie Pete Hale, der Drummer von Here We Go Magic, konnte Garvey endlich wieder in der Anonymität untertauchen. Und natürlich in einem Café oder Diner sitzen und Texte schreiben: „New York ist ein brutaler Ort – dennoch gelten dort sozialistische Werte.“ Garvey fand tatsächlich jene Stadt aus E. B. Whites Liebeserklärung „Here Is New York“ vor – dabei stammt der Essay über die Stadt, der 9/11 weissagte, aus dem Jahr 1949. „Zunächst denkt man, die Menschen dort wären grob und kalt, aber faktisch ist das nur ihre Effizienz. Über Kalifornien sagt man, dass dort jeder vorgibt, dein Freund zu sein, es aber in Wirklichkeit nicht ist. In New York gilt das Gegenteil. Jeder gibt vor, nicht dein Freund zu sein, aber… „

In einem Diner in Manhattan lernte der traditionsbewusste Garvey dann auch die zeitgenössische Musikverwertung zu verabscheuen. „Spotify soll sich verpissen! Was ich besonders verstörend finde: Da läuft irgendeine Playlist im Diner, und wenn man dann die Bedienung fragt, weiß sie gar nicht, wer der Künstler ist. Wahrscheinlich müssen Bands demnächst ihren Namen während des Song-Intros nennen.“

Mit „The Take Off And Landing Of Everything“ schlagen Elbow nun definitiv ein neues Kapitel der Bandgeschichte auf – es könnte ihr großer Durchbruch werden. Elbows bisher bestes Werk ist jedoch nicht das Progrock-Monster, das viele englische Kritiker prognostiziert haben. Klassischer Elbow-Stoff bildet zunächst die Grundlage, die Songs bewegen sich wie Ebbe und Flut. Und „A Trick Of The Tail“, 1976 die erste Genesis-Platte mit Phil Collins als Lead-Sänger, scheint eine karrierelange Patenschaft für die Band übernommen zu haben. Ein bisschen Yes hier, ein bisschen King Crimson dort – und „New York Morning“, neben dem Titeltrack weiteres Herzstück, erlebt ein Aufeinandertreffen von Barclay James Harvest und Peter Gabriel, in dessen Real World Studios man während der Aufnahmen auch eine Zeitlang verweilte. In „Honey Sun“ und „Colour Fields“ allerdings verfestigt sich eine ungeahnte Auf bruchsstimmung – hier hat man sich eher an Here We Go Magic und Radiohead orientiert.

Wo der Weg von Elbow zukünftig hinführen wird, lässt das eindrucksvolle Albumfinale mit „The Blanket Of Night“ erahnen. Die Zeilen „Carry both of us, or swallow her, swallow me“ setzen den düsteren Schlusspunkt, man fühlt sich an das minimalistische „Ghosts“ von Japan erinnert. „Hast du das Intro mit den Streichern und den Drums gehört? So klang zunächst der komplette Track. Aber das empfanden wir dann plötzlich als zu exemplarisch für uns. So haben wir bis auf den Gesang alles entfernt und den Song mit musikalischen Kleinteilen wieder aufgebaut“, erklärt Garvey.

Man hört den Ozean tosen, auf hoher See kämpfen Flüchtlinge um ihr Überleben. „Alle reden über das Migrationsproblem, aber wo bleibt das Mitgefühl für Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen müssen? Tausende sterben jedes Jahr. Wir sollten uns geschmeichelt fühlen, wenn Flüchtlinge uns als neue Heimat wählen. New York handhabt das übrigens besser als andere Metropolen. Illegale Einwanderer werden amnestiert, weil die Stadt erkannt hat, dass die meisten wirklich dort arbeiten wollen. Als ‚The Blanket Of Night‘ schließlich fertig war, wurde mir klar, dass es genauso von mir und meinem Trip nach New York handelt. Ich bin auf gewisse Weise auch ein Flüchtling.“ Garv zuckt entschuldigend mit den Achseln und leert sein Pint Guinness. „Wenn auch ein sehr, sehr wohlbehaltener.“

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