NEBEL ÜBERM PARADIES

Seit fast 20 Jahren kommen einige der schönsten britischen Alben aus einer kleinen Kommune an der schottischen Ostküste. Der Songwriter JAMES YORKSTON hat dieser Gegend nun ein Album gewidmet, und sein Freund Kenny Anderson alias KING CREOSOTE vertont die Geschichte seines Heimatlandes. Was das in diesem Monat anstehende Referendum über die schottische Unabhängigkeit angeht, sind die beiden sich nicht ganz einig.

Zwei Flugzeuge braucht man und drei Busse, um von Berlin an den East Neuk zu kommen, den östlichsten Winkel Schottlands. Die Mitreisenden werden immer älter und immer weniger, die Straßen werden immer enger und immer krummer. Bis man der einzige Fahrgast ist und der Bus sich in Schrittgeschwindigkeit durch das kurvenreiche Cellardyke schiebt. Das kleine Fischerdorf war mal für eine Medienminute lang weltberühmt, weil hier im März 2006 das erste Tier mit Vogelgrippe an Land gespült wurde. Die Fernsehbilder vom hiesigen Strand sahen allerdings so malerisch aus, dass etliche Städter sich darauf hin hier oder im unmittelbar angrenzenden Städtchen Anstruther ein Anwesen kauften und die Hauspreise in die Höhe schnellen ließen.

Am Hafen von Anstruther liegen die Fischernetze an diesem Nachmittag auf dem Pier und die Boote im Schlick. Es ist Ebbe. An der Shore Street, das schottische Fischereimuseum in Sichtweite, sitzen ein paar greise Sommerfrischler in der Sonne und mümmeln an Schellfisch und Chips. Doch die Küste von Fife, so heißt diese Region, ist nicht nur eine Art schottisches Florida für die unteren Klassen. Hier leben auch jede Menge Studenten der renommierten, 15 Kilometer entfernten University of St. Andrews und nicht zuletzt viele Künstler und Musiker wie etwa Mitglieder der Beta Band. Auch die Sängerin KT Tunstall, deren Stiefvater in St. Andrews lehrte, kommt aus der Gegend. Und Kenny Anderson, besser bekannt unter seinem Pseudonym King Creosote, gründete hier Ende der Neunziger mit einigen Freunden das Label Fence Records. Neben seinen Brüdern, den Zwillingen Gordon (The Beta Band, The Lone Pigeon, The Aliens) und Een (Pip Dylan) gehörte auch der Songwriter James Yorkston bald zu diesem Musikerkollektiv, das sich Fence Collective nannte. Yorkston stammt aus dem Bauerndorf Kingsbarns ein paar Kilometer nördlich, lebte lange in Edinburgh und zog vor ein paar Jahren zurück an den East Neuk. Sein neues Album trägt den Titel „The Cellardyke Recording And Wassailing Society“, und Wassailing, das muss man wissen, bezeichnet den alten br itischen Brauch, gemeinsam auf Gesundheit und gute Ernte anzustoßen.

Ein Album mit so einem Titel muss tief verwurzelt sein in den Traditionen und der Gemeinschaft dieser Gegend. Wo sonst sollte man Yorkston also treffen als in einem Pub am East Neuk? Die Stammkneipe The Haven in Cellardyke hat am nächsten Morgen noch geschlossen, also treffen wir uns im The Bank in Anstruther. Für Yorkston nur ein kleiner Spaziergang an der Küste entlang. Er trägt Schirmmütze und Sonnenbrille. Für schottische Verhältnisse ist es bis hierhin ein warmer Sommertag. Doch wie bestellt zieht mit der Flut langsam der Küstennebel, der sogenannte Haar, auf und lässt die Temperatur um etwa zehn Grad sinken. „When the haar rolls in“, hat Yorkston in einem seiner besten Songs gesungen, „it’s just a question of waiting things out/And that’s when the music, I swear, gets me through/I close my eyes and everything’s okay.“

Okay war in den vergangenen Jahren allerdings wenig in Yorkstons Leben – seine kleine Tochter und der Bassist seiner Band The Athletes, Doogie Paul, erkrankten schwer, er spielte keine Konzerte mehr, vernachlässigte seine Freunde von Fence und igelte sich mit seiner Familie im kleinen Fischerhäuschen in Cellardyke ein. Mehr aus Pflichtgefühl veröffentlichte er „I Was A Cat From A Book“, ein Album mit unglaublich traurigen, teilweise aber auch sehr wütenden Liedern über das Schicksal, das es nicht gut mit ihm meinte. „Irgendwann nach dieser Platte kam der Punkt, an dem ich dachte:,Scheiß drauf, das Leben ist kurz, wir sollten Spaß haben und Musik machen'“, sagt der 44-Jährige und gießt sich Tee ein. „Obwohl alles danach noch schlimmer wurde und Doogie schließlich starb, hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit, wieder ein wenig optimistischer nach vorne zu schauen.“

Die privaten Tragödien sind noch sehr präsent in den neuen Songs, doch zugleich sind da Trost und Hoffnung, Lieder über Tage mit Sohn und wieder genesender Tochter am Strand und die Geister einer unbeschwerten Vergangenheit. „Die Texte sind mir dieses Mal nicht schwergefallen“, sagt Yorkston. „Es ist alles ganz natürlich entstanden. Ich habe einfach über das geschrieben, was ich kannte, und mir war klar, dass es eine ziemlich trübsinnige Platte hätte werden können, wenn ich nicht auch ein paar leichtere Songs schreibe, die nicht vom Verlust eines Freundes handeln.“ Dass aber auch die dunklen Momente nicht ganz so dunkel sind, eher wie ein Leichenschmaus klingen als wie eine Totenmesse, liegt an den vielen Stimmen auf diesem Album, die in jedem Moment zu sagen scheinen: Du bist nicht allein. Neben Yorkston singen hier KT Tunstall, Johnny Flynn alias The Pictish Trail, die Geigerin Emma Smith und Alexis Taylor von Hot Chip, der die Platte auch produziert hat.

Die Stimmung im Studio sei so gelassen und entspannt gewesen, dass fast alles funktioniert habe, so Yorkston. Am Ende hätten sie 16 Lieder gehabt statt der geplanten neun. „Es ist schwer im Angesicht des Todes und der eigenen Sterblichkeit, der ich mir nach alldem viel stärker bewusst bin als früher, zu Spaß und einer gewissen Selbstvergessenheit zurück zu finden“, sagt Yorkston. „Und ich glaube, der Grund, warum uns das auf diesen Liedern trotzdem gelungen ist, ist, dass wir nur sechs Tage im Studio hatten, um das gesamte Album aufzunehmen. Da war keine Zeit, groß darüber nachzudenken und in Panik zu verfallen. Wir haben einen Song gespielt, ein paar Späße gemacht, Pizza gegessen und den nächsten Song aufgenommen.“

Seine Lieder handeln zwar von Land und Leuten, vom Musizieren mit Freunden, von Nostalgie und Gemeinschaft, doch Yorkston mag es nicht, wenn man ihn deswegen in die Folkschublade steckt. „Für mich ist das Popmusik, auch wenn 99 Prozent der Leute das anders sehen“, sagt er. „Wenn ich einen wirklich schönen Urlaub in Deutschland gemacht hätte und mir darauf hin am Flughafen eine CD mit deutschen Volksliedern kaufen würde, wäre ich ziemlich angepisst, wenn ich darauf dann einen Typen wie mich hören würde, der ein paar traurige Songs über sein Leben singt.“

Das mit dem „Urlaub in Deutschland“ ist allerdings nur ein Vorwand für Yorkston, der sich schon in seinen in Buchform unter dem Titel „Lovely To Be Here“ erschienenen Tourtagebüchern als großer Geschichtenerzähler zeigte. „Apropos Deutschland, ich war mal in Bayern“, hebt er dann nämlich an und erzählt, wie er gemeinsam mit King Creosote als Begleitung von Tom Bauchop, der 2003 als U.N.P.O.C. den Fence-Records-Lo-Fi-Psychedelia-Klassiker „Fifth Column“ veröffentlichte, die Hochzeitsband für den Franz-Ferdinand-Gitarristen Nick McCarthy gab, der im Bayerischen seine österreichische Freundin ehelichte. „Es war wunderschön“, so Yorkston grinsend. „Irgendwann brachen die Mädels zu einem Spaziergang auf, und als sie zurückkamen, waren sie kreidebleich. Sie waren auf ein paar Typen getroffen, die eine Kuh vögelten.“ Ja, haha, good old Bavaria. Da lacht sogar der Tierfreund und Veganer Yorkston.

Was deutsches Brauchtum angeht, hält er es lieber mit den kulturellen Errungenschaften des Rheinlandes: Seit er „Last Night Sleep“ von Can auf dem Soundtrack zum Wenders-Film „Bis ans Ende der Welt“ hörte, ist er glühender Krautrock-Verehrer. Seine ehemalige Begleitband, The Athletes, sei der Versuch gewesen, wie eine Mischung aus Can und der irischen Folkband Planxty zu klingen, erklärt er. „Natürlich konnten wir nie so gut spielen, aber wir haben anfangs viel mit Repetition und Drones experimentiert.“ Der epischen Single „The Lang Toun“ von 2002 hört man diese Fixierung auch durchaus an. „Wir haben diese Richtung nicht lange durchgehalten“, meint Yorkston und lacht. „Die Idee, verschiedene Einflüsse in unseren Sound zu integrieren, ist aber geblieben, und in Zeiten, in denen die Nationen immer unwichtiger werden und sich alles öffnet, ist es ja auch nur natürlich, dass man sich gegenseitig beeinflusst.“

Er fühle sich seiner Herkunft nach eh nicht verpflichtet, irgendein musikalisches Reinheitsgebot einzuhalten, meint Yorkston. „Meine Mutter wurde in Ägypten geboren, mein Vater in Wales, man kann die Spuren meiner Familie nach Indien, Pakistan, Italien und Argentinien verfolgen. Meine Frau ist zudem Engländerin, und wir sind häufig dort. Ich fühle mich nicht sonderlich schottisch – durch meine Kinder fühle ich mich mittlerweile aber schon wie jemand, der in Fife Wurzeln geschlagen hat.“ Trotz fehlendem Patriotismus werde er aber beim Referendum am 18. September für die schottische Unabhängigkeit stimmen -„aber das ist eher eine politische Entscheidung. Mir sagt die englische Politik nicht zu.“

Auf den Straßen und in den Pubs ist die Frage, wie man es mit der Unabhängigkeit hält, in diesem Sommer das vorherrschende Thema. Zumal sich das Vereinigte Königreich in Glasgow bei den Commonwealth Games noch einmal in aller Muskelkraft präsentiert. Die BBC zeigte im Vorfeld der Spiele „From Scotland With Love“, eine historische Filmcollage der Australierin Virginia Heath, zu der niemand Geringerer als Kenny Anderson alias King Creosote die Musik schrieb. Als ich den 47-Jährigen später in der Dreel Tavern, zwei Minuten entfernt vom The Bank, treffe, hat er gerade erfahren, dass sein Soundtrack einen Tag nach der Veröffentlichung auf Platz 14 der britischen Charts eingestiegen ist. Mit 1.789 verkauften Exemplaren. Das relativiert die Sache ein bisschen. Trotzdem spendiert er erst mal ein Lager. Die Lieder über die Historie seines Heimatlandes seien ihm zunächst nicht leicht gefallen, erklärt er. Doch dann habe er im Zug auf dem Weg nach London verstanden, dass man von ihm keinen Geschichtsunterricht, sondern Empathie erwartete. „In der Familie meines Vaters waren alle Bauern, in der meiner Mutter alle Fischer – ich wusste, wie diese Leute sprechen, wie sie denken und ich kannte ihre Lieder. Dann ging es ganz schnell.“

Anderson ist, wie diese federleichten, mit schottischen Akzent gesungenen Folk- und Popsongs zeigen, ein großer Kenner der schottischen Mentalität – und genau deswegen ist er auch, so sagt er, strikt gegen die Unabhängigkeit seines Heimatlandes. „Uns ging es doch ziemlich gut als Underdog, der immer jemand Größeren beschuldigen konnte, wenn etwas schieflief“, meint er. „Schottland wäre keine Nation, die Verantwortung übernehmen würde, wenn etwas schiefginge. Es ist was anderes, wenn der große Widersacher nicht in Westminster sitzt, sondern du selbst dein größter Feind bist.“ Zudem sorge er sich, Glasgow könne an Macht gewinnen, sodass ein Konflikt zwischen Stadt und Land entbrenne. „Außerdem scheint es mir in Zeiten der Krise nationaler Ökonomien eher sinnvoll, sich zusammenzuschließen, als sich abzuspalten und mit einer Bevölkerung von der Hälfte Londons zum Spielball der Weltökonomie zu werden. Ich finde, wir sollten uns nicht so wichtig nehmen. Kulturell ist Schottland nun wirklich nicht besonders spannend.“

Auch er sieht sich als Bewohner von Fife und speziell des East Neuk und nicht so sehr als Schotte. „Hier gibt’s ziemlich wenige Dudelsäcke und durch die Universität in St. Andrews, die Handelsverbindungen und den kulturellen Austausch über die Nordsee war das hier immer ein offener Ort“, erklärt er. „Dadurch haben die Einwohner zwar zugleich ihre Traditionen etwas intensiver gepflegt, aber kaum jemand denkt, es wäre besser, ganz allein zu sein.“

So in etwa hält er es auch mit seinem Label – offen für alles und zugleich auf die Pflege der lokalen Kultur bedacht. Sein ehema liger Kompagnon Johnny Flynn hätte aus Fence gerne eine international erfolgreiche, professionell geführte Firma gemacht. Die beiden gingen schließlich im Streit auseinander, Flynn gründete Lost Map Records, Anderson pflegt Kleinstprojekte, veröffentlicht LPs in stark limitierter Auflage (sein exzellentes, sehr intimes Album „3 On This Island“ etwa konnten bisher nur Bewohner der schottischen Insel Mull bei Konzerten erwerben) und sammelt mit Konzerten und Mini-Festivals Geld für die Renovierung einer alten Kirche, die zum Veranstaltungsort umgebaut werden soll.

„Ich will kein Label-Boss sein. Ich will selbst schreiben, aufnehmen und auf Tour gehen und nicht irgendwelche Leute anrufen, um sie zu fragen, warum sie eine bestimmte Platte nicht bei Radio Scotland spielen“, sagt er, als wir schon auf der Terrasse von Alan und Elizabeth, den Eltern seiner Freundin Jen (Künstlername: HMS Ginafore), am Hafen von Anstruther sitzen, Wein trinken, vegetarisch essen und seine acht Monate alte Tochter Louise bewundern. Kristine, eine Amerikanerin, die in St. Andrews studiert hat und heute in Amsterdam lebt, ist auch noch da, und alle erzählen von den wundervollen Fence-Konzerten, die sie hier in diesem Kaff am East Neuk über die Jahre gesehen haben. „Für mich war Fence immer das Gegenmittel zu allem, was ich als King Creosote bei größeren Plattenfirmen durchmachen muss“, sagt Anderson, als wir kurz vor Sperrstunde noch mal in den Pub auf brechen. „Der Name Fence soll Künstlern helfen, ihr eigenes Ding zu machen, und das hat über die Jahre gut funktioniert.“

Auch James Yorkston hat als junger Songwriter bei Fence zum ersten Mal erfahren, was künstlerische Freiheit bedeuten kann. „Bis ich 28 war, war ich Bassist in ziemlich erfolglosen Bands, und alles musste immer auf den Punkt spielen“, erzählt er. „Als ich dann nach Fife zurückkam und bei Fence-Konzerten mitspielte, hat mir Kennys Offenheit mit eigenen Songs und Ideen umzugehen, die Augen geöffnet – ich habe erkannt, wie fließend und allumfassend Musik sein kann. Das ist mir seitdem sehr wichtig.“

„The Cellardyke Recording And Wassailing Society“ ist auch ein Tribut an die alten Zeiten von Fence – aus dem Titel lässt sich das Akronym CR AWS bilden, das auf die Band The Three Craws anspielt, die aus Yorkston und seinen nun zerstrittenen Freunden Kenny Anderson und Johnny Flynn bestand. „Ich bin weiterhin mit beiden befreundet“, sagt er. „Als es zwischen ihnen krachte, hat mich das nicht groß interessiert, denn ich hatte echt andere Sorgen. Im großen Lauf der Dinge gibt es wirklich Wichtigeres, als dass aus einem Label zwei werden.“

Er empfinde es als Privileg und manchmal sei es ihm in Zeiten globaler Krisen und Kriege regelrecht peinlich, als Musiker arbeiten und damit sogar seine Familie ernähren zu können, sagt er. „Ich habe oft mit Kenny darüber gesprochen, wie viel Glück unsere Generation hatte – wir mussten in keinen Krieg ziehen, wir konnten einfach nur Musik machen. Und ich finde, das ist auch eine gewisse Verpflichtung. Es wäre eine Beleidigung für die Leute, die aus dieser Gegend abgezogen und getötet wurden, wenn wir diese Gelegenheit nicht nutzten. Das denke ich oft, wenn ich an den Kriegergedenkstätten am Strand entlang laufe.“

Auf der vierten Seite der Doppel-LP-Version seines neuen Albums hört man James Yorkston, wie er mit einem Diktafon am Hafen von Anstruther spazieren geht – die Wellen, den Wind, den Regen, ein paar Autos, die die Shore Street entlang fahren, seine kleine Tochter, die irgendetwas quäkt und das einsame Banjo von Doogie Paul, das er unter dieses field recording legte. Wenn man dabei die Augen schließt und sich vorstellt, der Nebel ziehe auf, könnte man fast meinen, man sei im Paradies.

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