„NME“: Das Blatt, das man zu hassen liebte

ROLLING-STONE-Redakteur Arne Willander zum Ende der größten und lange Zeit bedeutendsten Musikzeitschrift Englands.

Nie mehr werden wir so uneins einig sein wie in der Meinung über den „New Musical Express“. Es wird nie mehr eine Musikzeitung geben wie diese, und endlich ist kein Begriff zu groß: die Institution, das Zentralorgan, der nationale Schatz, der Weltempfänger der Popmusik. Der „NME“ war das Blatt, das zählte. Der „Melody Maker“ war gut, der „NME“ besser.

Es war die wöchentliche Vergewisserung für Menschen, die neue Platten mehr kümmern als Sportberichte, Börsennotierungen, politische Kommentare, vermischte Nachrichten und das Feuilleton. Er war Meinung, und Aufregung, Debatte und Behauptung, Stil und Attitüde. Der „NME“ war das Blatt, das man zu hassen liebte: unbedingt subjektiv, polemisch, adorierend, ungerecht, übertreibend, borniert und volatil.

Zentralorgan der Jugendkultur

Der „NME“ ging 1952 aus einer Zeitung hervor, die „Accordion Times And Musical Express“ hieß, und erhob ­eine Liste mit dem Dutzend der meistverkauften Singles (die erste Nummer eins war „­Here In My Heart“ von Al Martino). Es war die Welt vor Rock’n’Roll und der Jugendkultur. Als der Rock’n’Roll in die Welt kam, gewann der „NME“ Elvis Presley und Cliff Richard und Duane Eddy und dann die Beatles und die Rolling Stones, Kinks und Who, ein Fanzine, das in einem jährlichen „Poll“ die Leser befragte und Beliebtheitspreise vergab.

Inzwischen ein Fall für den Papierkorb: „NME“
Inzwischen ein Fall für den Papierkorb: „NME“

1963 wurden 300.000 Exemplare verkauft – und noch einmal im Jahr 1973 nach einer kurzen Krise und Remedur, die dem neuen Musikjournalismus die Türen öffnete: Charles Shaar Murray und Nick Kent, später Julie Burchill, Everett True und Tony Parsons schrieben mit dem Furor, dem Eifer und dem Wahnsinn und Witz, die zu Beginn der 70er-Jahre die putzige Idolatrie von Interview, Hofberichterstattung und gelehrter Rezension verwandelten. Die lobenden, bangenden und enttäuschten Liebhaber waren jetzt auch fordernde, provozierende und feurige Exegeten und Apostel.

Man sprach über den „NME“

Punk war der große Moment des „NME“, und die Kassetten-­Compilations „C81“ und „C86“ und die Britpop-Euphorie in den 90er-Jahren waren zwei weitere Triumphe des teilnehmenden Musikjournalismus. Der „Hype“, den das Blatt entfachte, wurde immerzu beklagt – aber man sprach über die „Hot List“, über die Titelblätter, über die Reviews.

Immer weniger. Die Web­site des „NME“ blieb maßgeblich und wurde gelesen, während die Zeitung (seit 1998 mit Hochglanz-­Umschlag) im Auflagenschwund verdämmerte und seit 2015 als Gratispostille erschien. Inzwischen wurde die letzte gedruckte Ausgabe ver­teilt.

Chris J Ratcliffe Getty Images
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