PAUL

Sollten Sie sich fragen, wie Beatlemania anno 2013 aussieht – (oder ob es dieses prähistorische Phänomen überhaupt noch gibt), sollten Sie sich einfach mal in L. A. auf die Straße stellen – auf den Hollywood Boulevard genau genommen, wo Paul McCartney heute Abend ein Freikonzert geben wird. Auf dem Balkon des Sun Taco drängen sich schon seit Stunden die verschwitzten Leiber – und lässt man den Blick weiter nach oben gleiten, sieht man ein Meer von Köpfen, die sich aus jedem verfügbaren Fenster recken. Gleich über den Dächern erblickt man den Hubschrauber der örtlichen Fernsehstation, der gerade im Tiefflug über den Boulevard donnert – und noch ein Stück höher drei kleine Privatflieger, die langsam ihre Kreise ziehen: offensichtlich Beatles-Fans mit Pilotenschein, die dort oben in der ersten Reihe zu sitzen glauben.

Der Auftritt wird die Saison-Premiere der Late-Night-Show „Jimmy Kimmel Live!“ krönen – und gleichzeitig die Veröffentlichung von Mc-Cartneys 24. Post-Beatles-Album, „New“, einläuten. Als Kimmels Büro bei der Stadtverwaltung nachfragte, ob man den Hollywood Boulevard sperren könne, fing man sich zunächst eine Absage ein. Allerdings bezog sich die Anfrage auch noch auf einen anderen musikalischen Gast. Erst als man statt Justin Timberlake den Namen Paul McCartney fallen ließ, wurde aus dem Nein plötzlich ein Ja.

Kurz nach 15 Uhr steigt McCartney hinter dem Theater aus einer Limousine und wird gleich von einem Security Team umringt, das von seinem Bodyguard Mike angeführt wird. Paul trägt ein maßgeschneidertes türkisblaues Hemd und hautenge Jeans, von denen man einem 71-Jährigen normalerweise nur abraten würde. Er ist rank und schlank – natürlich nicht zuletzt das Resultat seiner vegetarischen Ernährung, der Yoga-Übungen und des Krafttrainings, das er auch auf Tour eisern durchzieht. In den Fitness-Räumen der Hotels kann man ihn wohl auch mal beim Handstand beobachten – wobei seine Bodyguards schon darauf achten, dass ihm die Neugierigen nicht allzu sehr auf die Pelle rücken. Seine Haare, dunkelbraun gefärbt, liegen flott über dem Kragen – und sein nahezu biblisches Alter will so gar nicht zu seinem lockeren Auftreten passen. Die schelmische Genugtuung, noch immer niemand Geringerer als Paul McCartney zu sein, ist mit Händen greifbar. Als er die Fans sieht, die an beiden Enden des Parkplatzes campieren, begrüßt er sie mit ein paar demonstrativen Bewegungen auf der Luftgitarre.

Während er zügig durch den Keller des Theaters geht, bildet sich hinter ihm gleich eine Menschentraube. Wir kommen an einer Tür mit der Aufschrift „Paul McCrew“ vorbei und sehen Container aus dem Öko-Laden, in denen sich Reis-Röllchen und Tofu-Sandwiches befinden. Er steigt die Treppe zum Parterre hoch, klettert draußen auf die Bühne und winkt den schreienden Fans zu, die auf dem Dach des Sun Taco auf ihn gewartet haben. „Er gibt jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein“, weiß Chris Holmes, McCartneys Tour-DJ. „Wenn wir abends ein Konzert haben, kommt er vorher auf die Bühne und macht mit dem Stage-Manager ein kleines Tänzchen. Und für den Rest seines Lebens wird der Junge sagen:,Ob du’s glaubst oder nicht: Einmal hab ich mit Paul McCartney getanzt.‘ So funktioniert Paul nun mal. Das kommt spontan und ist kein Getue, das er nur für die Kameras macht.“

Auf der Bühne macht sich die Band mit „Matchbox“ warm. McCartney spielt den Carl-Perkins-Song schon seit 1962. Vor ein paar Wochen kämpfte er mit einer aufziehenden Erkältung und hatte schon Angst um seine Stimme, vertraute aber seiner Vitamin-C-Ration und dem Hausmittel, das er sich einst von Little Richard abgeguckt hatte (der ihn bekanntlich auch zu seinem markerschütternden Schrei inspirierte):“Man nimmt sich einen Topf kochendes Wasser, gibt Olbas-Öl hinein „- er lehnt sich nach vorne und tut so, als würde er sich ein Handtuch über den Kopf ziehen – „… zieht einmal den Dampf ein und: Aaaahhh! Es haut dir den Kopf weg“, sagt er. „Ich hab’s zum ersten Mal in Hamburg gesehen, wo er tief inhalierte, den Kopf hob, sich im Spiegel anschaute und ,Richard, you’re so beautiful‘ japste.“

McCartneys Bariton mag inzwischen vielleicht etwas rauer klingen, ist aber noch immer voll und stark – und selbst der spitze Schrei kommt mit erstaunlicher Präzision. Er hat Schiss vor dem Tag, an dem er wie gewohnt in seine stimmliche Asservatenkammer geht -und mit leeren Händen zurückkommt. „Zum Glück ist der Tag noch nicht gekommen“, sagt er. „Neulich traf ich allerdings Billy Joel, der mich fragte:,Singst du deine Sachen eigentlich noch immer im gleichen Register? Ich muss meine um einen Halbton tiefer singen.'“

Nach dem krachenden „New“-Track „Save Us“ wirft McCartney die Stirn in Falten: Die Rhythmusgruppe klingt heute dominanter als gewöhnlich. „Wenn’s zu laut und unkontrolliert wird, läuft man schnell Gefahr, sich selbst etwas vorzumachen“, sagt er. „Im Fernsehen klingt’s nämlich am Ende nur noch beschissen.“ Er dreht sich rum und ruft seinem Drummer zu: „Abe, lass mich mal Drums und Bass separat hören -nur um sicherzustellen, dass wir uns nicht einen suppigen Sound anlachen.“ Die beiden grooven los, bis McCartney nickt. Er hat einfach vergessen, wie der Sound auf einer derart kleinen Bühne klingt.

Die Jungs in der Band sind gestandene Profis – und wissen nur zu gut, dass er als Bandleader Präzision erwartet. „Es gibt keine Fehler, wenn man mit Paul McCartney arbeitet“, sagt Barrie Marshall, McCartneys Tour-Veranstalter seit 1989. „Oder anders gesagt: Du kannst natürlich einen Fehler machen, aber dann solltest du’s auch zugeben. Heb die Hand, schau ihm in die Augen und sag:,Ich hab Mist gebaut.‘ Und dann mach’s nie wieder.“

Nachdem er der Crew seine Set-Liste gegeben hat, wandert er durch Kimmels Studio und wünscht noch eine kleine technische Änderung: „Sie installieren noch ein paar zusätzliche Scheinwerfer“, erklärt John Hammel, McCartneys Gitarren-Techniker, Aushilfs-Chauffeur und Mädchen für alles. Hammel deutet auf die Unterseite seines Kinns. „Bei jungen Leuten mag ein Schatten hier ja vielleicht cool aussehen – für alte Männer wie uns: besser nicht. Die Schwerkraft fordert ihren Tribut.“

Einer von Kimmels Produzenten kommt auf ihn zu und möchte sich von McCartney einen neuen Drehbuchentwurf absegnen lassen: Der ursprüngliche Vorschlag hatte vorgesehen, dass McCartney bei Kimmels Eingangsmonolog auf die Bühne gekommen wäre, um einen kleinen Sketch zu spielen, der das alte „Paul is dead“-Thema noch mal aufwärmen sollte. (McCartney sollte zugeben, dass die wirren Theorien tatsächlich der Wahrheit entsprachen -und er nicht Paul, sondern ein Doppelgänger namens Gary sei.) Stattdessen hatte McCartney einem reduzierten Sketch zugestimmt, in dem er mit Kimmels Sidekick Guillermo ein kleines Beatles-Quiz veranstaltet. McCartneys Teil des Dialoges ist allerdings inzwischen auf ein einziges Wort eingedampft worden -„um’s für Sie einfacher zu machen“, wie der Produzent sagt. „Dafür braucht man aber nicht lange zu proben“, erwidert McCartney.

Ein weiterer Mitarbeiter namens Ken tritt hinzu. „Ich bin der Mann, der das Vor-Interview mit Ihnen macht“, sagt er. „Das heißt, ich informiere Sie über die Punkte, die Jimmy in Ihrem Gespräch ansprechen wird.“ McCartney kräuselt die Lippen. „Oder auch nicht, wenn Sie auf das Vor-Interview lieber verzichten möchten?“, fragt Ken. „Lieber nicht“, sagt Mc-Cartney. „Ist mir lieber, wenn ich nicht weiß, was auf mich zukommt.“

Als der Auftritt näher rückt, verschwindet McCartney im Umkleideraum, um seine Bühnen-Routine zu starten. (Gurgeln mit Salzwasser gehört dazu, aber auch das Inhalieren des kochenden Wassers.) Eine elegante brünette Dame mit prominenter Nase trifft ein: Nancy Shevell ist seit zwei Jahren McCartneys bessere Hälfte und offensichtlich der Anlass, dass „New“ zum großen Teil aus Lovesongs besteht. („Save Us“, so erklärt uns McCartney später, thematisiere „die heilende Wirkung, die eine gute Frau haben kann“.) Als die Show beginnt, stehen Mann und Frau zusammen vor einem riesigen Monitor im „Green Room“(dem Wartezimmer für die abendlichen Gäste der Show) und verfolgen Kimmels Monolog. Alle anderen stehen in gebührendem Abstand hinter ihnen. McCartney fährt ihr mit der Hand über den Rücken, bis sie über ihrem Po zur Ruhe kommt. Als er das Zeichen für seinen Auftritt bekommt, sagt Shevell: „I love you, babycake.““I love you“, antwortet er. (Shevell mag zwar der Spross einer amerikanischen Speditions-Dynastie sein, muss allerdings über bemerkenswerte Kenntnisse des McCartney-Kanons verfügen: Als einige Minuten später das erste Show-Segment zu Ende geht und eine seltsame Synthesizer-Melodie zum Werbeblock überleitet, ruft sie spontan: „Temporary Secretary!“

Bevor er durch die letzte Tür auf die Bühne geführt wird, streicht ihm seine Make-up-Frau Lauren noch schnell eine Strähne aus dem Gesicht und drückt einmal kurz aufs Haarspray. Im Gespräch mit Kimmel variiert Mc-Cartney gekonnt zwischen Smalltalk (einem etwas anzüglichen Witz) und Rührung. (Er beschreibt, wie gefährlich es sein kann, bei Live-Performances von „Let It Be“ die Tränen kullern zu lassen.) Als er wieder zum „Green Room“ zurückkehrt, wird er von seinem Gefolge johlend empfangen.

„Wie wär’s mit einem Drink?“, ruft er in die Runde.

Und wieder johlt es zurück.

Das neue Album nahm Gestalt an, als McCartney vor Jahren in seinem Hog Hill Mill Studio in der englischen Countryside saß und grobe Ideen skizzierte. Konkreter wurde es erst, als er potenzielle Produzenten unter die Lupe nahm. In einigen Phasen seiner Karriere verspürte er den dringenden Wunsch, mit anderen Musikern zusammenzuarbeiten -in anderen wiederum hockte er sich lieber allein ins Zimmer und bastelte stillvergnügt vor sich hin. „McCartney“ und „Mc-Cartney II“ entstanden auf diese Weise -Letzteres auf seiner schottischen Farm, wo er sich mit ein paar Synthesizern und einem dicken Beutel Gras verbarrikadiert hatte.

„Als Kind schrieb ich Songs grundsätzlich allein“, sagt er, „weil ich nun mal niemand Anderen hatte. Dann traf ich John, der genau das Gleiche machte. Wir wurden Partner – und in den folgenden Jahren gab’s eigentlich nie mehr die Notwendigkeit, einen Song allein schreiben zu müssen. Wunderbar! Aber als die Beatles Erfolg hatten, hockten wir eben nicht mehr ständig in Hotelzimmern zusammen. Er lebte in seinem Haus, ich in meinem – und das gemeinsame Songschreiben löste sich wieder in Luft auf. Ich habe also beide Varianten kennengelernt – und beide haben ihre Vorteile.“

Im Falle von „New“ machte sich jedenfalls wieder seine soziale Ader bemerkbar. Sein erster Anlauf führte ihn ins Londoner Studio von Paul Epworth, einem jungen Songschreiber und Produzenten, der vor allem Adeles „21“ vorweisen kann. McCartney, der das Album ungemein schätzt, kam mit leeren Händen. „Es war wie:,Okay, schaun wir mal, was passiert.‘ Ich bin für alle Anregungen offen -nur langweilen möchte ich mich nicht.“ Epworth war kein Langweiler, sondern schlug einen druckvollen Rock-Beat vor. Dieses Tempo, diese Energie, sagte er McCartney, sei genau das, was er brauche. „,Prima‘, sagte ich,,gute Idee. Lass uns nicht zu tranig und trübselig werden, sondern richtig Gas geben.‘ Er setzte sich hinters Schlagzeug, ich klemmte mich hinters Klavier, baute ein paar Akkorde ein und etwas Struktur -und fing dann an, die passenden Worte zu suchen. Normalerweise kommen Text und Melodie bei mir zusammen. Ich lass meinen Gedanken einfach freien Lauf – und Musik und Worte stellen sich gleichzeitig ein. Aber wenn man improvisiert, hat man die Worte natürlich nicht gleich zur Hand – man weiß nicht mal, wovon der Song überhaupt handelt. Man hat nur ein vages Gefühl, welche Art von Gesang dazu passen könnte, also singt man wada bada bada wado biddo woo, um zunächst mal eine Melodie herauszuarbeiten und dann Worte zu finden, die dazu passen.“ Das Resultat dieser Session hieß „Save Us“.

Die nächste Station war Produzent Ethan Johns. „Er hat die frühen Kings-Of-Leon-Aufnahmen gemacht, also wusste ich, dass er für Authentizität und Urwüchsigkeit steht. Ich brachte ihm ,Hosanna‘ mit – eine zarte, vermutlich akustische Ballade – und sagte: ,Ich hab den Song schon fertig geschrieben.‘ Worauf er meinte:,Dann geh doch einfach mal rein und sing ihn.‘ Was ich denn auch tat – nur um anschließend zu fragen:,Soll ich’s gleich noch mal machen? Wollen wir was dran feilen?‘, worauf er nur sagte: ,Nein, es ist ganz wunderbar, wie du’s gemacht hast. Ich glaube, das war’s schon.‘,Aha‘, dachte ich mir, ,so arbeitet er also: alles ganz roh, alles spontan, nicht zu viel denken, sondern einfach nur raus damit.'“

Danach kamen Probesessions mit Mark Ronson (dessen Amy- Winehouse-Aufnahmen er immer bewunderte und der auf McCartneys Hochzeitsfeier auch den DJ spielte) sowie Giles Martin, Sohn von Beatles-Produzent George, der beim Remix des Beatles-Albums „Love“ bereits mit ihm gearbeitet hatte. Statt sich schließlich für einen einzigen Produzenten zu entscheiden, engagierte er alle vier und teilte das Material entsprechend auf.

Und es gab noch einen weiteren Sparringspartner, so McCartney – jemanden, der sich schon seit Jahrzehnten im selben Raum befindet. „Wenn ich mir einer Sache nicht sicher bin, bring ich gerne mal John ins Spiel. Er sagt dann: ,Alter, das würd ich lieber gleich vergessen‘ – und wenn ich dann einen neuen Vorschlag mache: ,Ja, schon besser.‘ Wir haben ein richtiges Zwiegespräch, das ich sehr zu schätzen weiß.“

Am nächsten Tag – er hat gerade die Fotosession fürs ROLLING STONE-Cover hinter sich gebracht -klettert er in einen SUV, der ihn zum Tee im Beverly Hills Hotel zurückbringen soll. Er hatte zu der Fotografin einen derart guten Draht, dass er sich fragte, ob da vielleicht sogar noch mehr drin gewesen wäre. „Es machte einfach Spaß mit ihr“, sagt er. „Sie war wirklich cool – und mir ging durch den Kopf, dass ich sie sicher angebaggert hätte, wenn wir uns in den Sechzigern begegnet wären. Was sich dann vermutlich auch in den Fotos niedergeschlagen hätte. Aber ich bin ja Großvater inzwischen und mache solche Sachen nicht mehr.“ Er grinst verschmitzt. „Aber zumindest darf ich mir die Situation wohl noch ausmalen. Ich weiß ja, dass sie genau diese Atmosphäre provozieren wollte. Sie meinte, ich solle locker rüberkommen, aber ruhig etwas forsch und draufgängerisch. Worauf ich ihr sagte:,Hey, Baby, da bist du genau bei dem Richtigen gelandet.'“

McCartney kann, da täuscht sein braves Image, ein ganz schöner Draufgänger sein. Im Laufe seines Lebens hat McCartney reichlich Songs über Sex und fleischliche Lüste geschrieben. „Ich muss wohl wirklich von dem Thema besessen sein“, räumt er ein. Er erinnert sich daran, wie er als Kind mit seinen Kumpeln die Pennys zusammenkratzte, um sich ein paar schmutzige Heftchen kaufen zu können. „Man griff halt nach allen Informationen, die sich anboten. Ein Heft hieß ,Health &Efficiency‘ – was für ein Titel! – und beschäftigte sich mit Nudismus und Körperkult, doch für uns zählten natürlich nur die nackten Frauen. Einmal verdiente ich mir als Babysitter ein paar Kröten und benutzte die Gelegenheit, in der Bibliothek der Eltern zu stöbern. Es gab ein Handbuch der Sexualität, das es bei uns zu Hause zum Beispiel nicht gab. Muss wohl eine etwas liberalere Familie gewesen sein. Ich las dort Sachen wie ,Venushügel‘ – was meine pubertäre Fantasie natürlich unglaublich beflügelte. All diese Sachen haben sich irgendwie in mein Hirn eingebrannt.“

Es ist eine Thematik, die sich im Lauf der Zeit nur noch dezidierter in seinem Songwriting niederschlagen sollte -angefangen von „Why Don’t We Do It In The Road“ über „Eat At Home“ oder „Nod Your Head“ (was man durchaus als Anspielung auf Oralsex verstehen konnte) bis hin zu einigen schlüpfrigen Momenten auf dem neuen Album. „,Nod Your Head‘ war eigentlich gar nicht anzüglich gemeint“, sagt er, scheinbar peinlich berührt, „aber es stimmt schon: Die Doppeldeutigkeit ist nicht zu leugnen. Wenn man mich wegen sexueller Perversion vor Gericht zerren wollte, würde man diese Nummer sicher als Beweismaterial anführen. Wobei ich natürlich alle Vorwürfe hartnäckig abstreiten würde.“

Wir fahren am Hotel vor, in dem McCartney praktisch immer absteigt, seit er das erste Mal nach Los Angeles kam. Als er die Polo-Lounge betritt, scheint sich die Hälfte des Restaurant-Personals zum Empfang aufgebaut zu haben: „Welcome back, Mr. McCartney!“ In einer Ecke hockt ein Gitarrist, der am Abend für die musikalische Untermalung sorgen wird – Easy-Listening-Versionen von Otis Redding und U2 -, im Moment aber noch mit dem Kabelsalat seiner Anlage zu kämpfen hat. „Hab ich früher auch mal gemacht“, ruft McCartney ihm kumpelhaft zu. Er steuert einen Ecktisch an, wo er grünen Tee und eine Flasche Evian bestellt. Er erzählt, dass er mit dem Kiffen Schluss gemacht habe, aber immer noch gerne einen Drink nehme. Allerdings hat er für heute Nachmittag eine Massage gebucht und möchte dort nüchtern erscheinen. „Ich hätte jetzt gerne etwas Alkohol“, sagt er, „aber es ginge garantiert nach hinten los. Ich würd’s bereuen.“

Von nachmittäglichen Massagen abgesehen, fällt es ihm allerdings schwer, völlig abzuschalten. Er sei einfach nicht dafür gemacht, sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, sagt er. Faulenzen löse bei ihm eine tief liegende Unruhe aus. Als sich die Beatles 1969 auflösten, fiel er in tiefe Depression: Er blieb im Bett, rasierte sich nicht mehr, soff wie ein Loch und interessierte sich für nichts, was über seine Beziehung zu Linda Eastman hinausging. „An einem bestimmten Punkt sagte ich mir:,Willst du jetzt dein ganzes Leben hier sitzen bleiben und Däumchen drehen? Oder eines Tages vielleicht wieder Musik machen?‘ Also fummelte ich ein bisschen auf der Gitarre rum – und Linda meinte: ,Oh, ich wusste gar nicht, dass du das kannst.‘ Dann setzte ich mich an die Drums ,Oh, ich wusste gar nicht, dass du das kannst.‘ Ich kam letztlich nur wieder zur Musik zurück, weil ich Linda beeindrucken wollte. Ich wollte beweisen, dass ich noch etwas tauge.“

Seine Tauglichkeit unter Beweis zu stellen – das ist sein eigentlicher Motor. Es ist mit ein Grund, dass Mc-Cartney noch immer Konzerte gibt, die länger dauern als „The Hobbit“, dass er weiter neue Alben macht – und dass er mit sich selbst so hart ins Gericht geht. Ob’s nun Lennons Geist ist oder eine unerbittliche innere Stimme: „In meinem Kopf sitzt ständig der kleine Kritiker. Er ist immer da, immer mit der gleichen Lautstärke. Er lässt mich nie in Ruhe, sondern nörgelt nur rum: ,Bild dir darauf mal nichts ein!‘ Ich will mir auch gar nichts einbilden, ich will mir nicht auf die Schulter klopfen. Sicher: Ich bin ein cooler Typ – jedenfalls sagen mir das alle. Ich habe nachweisbare Erfolge auf meinem Konto. Man sollte eigentlich meinen, dass man irgendwann aufhört, seine Qualitäten infrage zu stellen. Ich hab reichlich Auszeichnungen und Trophäen bekommen, aber seltsamerweise keinen Raum, wo ich die Dinger sammle. Andererseits möchte ich mir natürlich einbilden, ein toller Hecht zu sein. Wann zum Teufel werd ich mir erlauben, mich ein wenig in diesem Glanz zu sonnen? Soll ich bis zu meinem Tod warten und dann sagen: ,Scheiße aber auch, ich hätt mir besser dafür etwas Zeit nehmen sollen?'“

Arbeit gibt ihm Genugtuung, aber selbst einfache Erinnerungen machen ihm eine ehrliche Freude. Sein Gedächtnis ist diesbezüglich phänomenal. Er erinnert sich detailliert daran, wie er als Kind in Liverpool leere Zigarettenschachteln sammelte -ein Flashback, den er gleich in einem Songtext auf „New“ verarbeitet hat. „Was in Amerika Baseball-Karten sind, waren bei uns Zigarettenschachteln“, sagt er. „Man riss die Vorderseiten ab und hatte immer einen Stapel Karten bei sich, die man dann mit seinen Freunden tauschte. Ich wohnte am Ende unserer Buslinie. Der Bus kam aus dem Bankenviertel in Liverpool und fuhr dann aus den betuchteren Gegenden in die ärmeren – bis ans Ende, wo wir wohnten. Man fand im Bus also die Zigaretten armer Leute, der gesetzten Bürger und der Reichen. Letztere waren natürlich die wertvollsten:,Passing Clouds‘ oder die russischen ,Sobranie‘. Dann ging’s runter über ,Craven A‘,,Senior Service‘ und ,Player’s Navy Cut‘ bis runter zu den ,Woodbines‘, die nur in der Arbeiterklasse geraucht wurden. Wir kannten sie alle aus dem Effeff.“

Er erinnert sich auch an die langen Spaziergänge, die er als Kind machte. Auf der Dungeon Lane ging er hinunter zum Grüngürtel im Südosten der Stadt, das „Book of Birds“ des „Observer“ immer zur Hand. „Inzwischen steht dort ein Flughafen, aber früher war man mitten in der Natur. Haben Sie jemals gesehen, wie eine Lerche in den Himmel aufsteigt? Wirklich beeindruckend. Während sie aufsteigen, singen sie “ – er fängt an zu pfeifen – “ und sie steigen richtig hoch, sicher 50,60 Meter, schnurgerade, während sie singen. Und dann macht’s whoosh, swup, swip -und sie schießen in eine andere Richtung wieder runter. Das machen sie natürlich nur, um dich von ihrem Nest abzulenken. Und solche Sachen haben mich damals unendlich fasziniert. Als ich ,Blackbird‘ schrieb, stellte ich mir wohl vor, wie eine Amsel genau das Gleiche macht. Es ist alles Hirnfutter, alles hier oben gespeichert. Ich bin damit aufgewachsen, die Wunder der Welt zu sehen – Natur, Musik, Gesellschaft, Individuen. Ich hatte immer schon dieses Staunen angesichts dieser Wunder.“

Und es sind alte wie neue Songs, die von diesem Staunen profitieren. „Blackbird“ oder „Yesterday“ muss er inzwischen millionenfach gesungen haben, doch noch immer offenbaren sich neue Rätsel und Geheimnisse. „Man sollte meinen, dass sie mir längst zum Hals raushängen“, sagt er, „und eigentlich rechne ich auch ständig damit. Aber seltsamerweise will es einfach nicht passieren. Ich versuche natürlich, den Song ganz routiniert abzuspulen, aber es gibt ein paar Wendungen und ein paar Worte, die ich nicht versemmeln darf – also muss ich mich schon konzentrieren. Und dabei stelle ich fest, dass ich die Arbeit dieses jungen Songschreibers auf Herz und Niere durchleuchte. Es ist fast so, als wäre es gar nicht mein eigener Song.“

McCartney beschäftigt sich viel mit anderen Künstlern, hat eine Sammlung mit Werken von de Kooning, Picasso, Philip Guston. Der Titel eines neuen Songs namens „On My Way To Work“ kam ihm in den Sinn, als er durch ein Buch von Damien Hirst blätterte. „Ich halte immer die Augen auf, ob mir irgendeine Inspiration vor die Flinte kommt. Ich öffne ein Buch und hoffe, dass mich gleich im ersten Abschnitt eine Wahnsinnszeile anspringt.“ Auch das Cover seines neuen Albums ist von der Liebe zur Kunst geprägt. Er hat es sich mit seinem „Kreativ-Team“ ausgedacht, zu dem Alasdhair Willis (der Ehemann seiner Tochter Stella) und „Rebecca und Mike“ gehören – „Leute mit Ideen, abgefahrene studentische Typen“. Das minimalistische Design, das sich vor den Licht-Installationen von Dan Flavin verneigt, stellt das Wort „NEW“ in Form von neun fluoreszierenden Balken dar. „Ich mag Flavins Sachen“, sagt McCartney. „Ich habe zwar noch nichts von ihm gekauft, aber wenn ich etwas von ihm in einer Galerie sehe, bin ich von seinen Ideen immer sehr angetan.“ Gibt es noch einen anderen zeitgenössischen Künstler, den er bewundert? Yoko Ono?

„Sie ist einfach super“, sagt er. Zusammen mit Ringo Starr und Olivia Harrison hatte er mit Yoko bereits im Rahmen von „Love“ gearbeitet – und nach Jahren gegenseitiger Unterstellungen und Ressentiments platzte bei ihnen plötzlich der Knoten. „Die Zeit heilt alle Wunden“, sagt er. „Ich dachte mir:,Wenn John sie geliebt hat, muss an der Frau was dran sein. Er war schließlich nicht bescheuert.‘ Ich fragte mich also:,Wie verhältst du dich jetzt zu ihr? Versteckst du dich weiterhin hinter der Aversion, die du persönlich eigentlich nie gehabt hast?‘ Wir waren halt alle gereizt, dass es mit den Beatles auseinanderging, dass sich unser Leben veränderte, dass plötzlich ein Mädchen im Studio saß. John wollte Yoko dabeihaben – und wir drei schnaubten vor Wut. Letztlich musste ich mir einfach nur einen Ruck geben: ,Lass doch mal schauen, wie wir wirklich miteinander klarkommen‘ – und wir kamen wunderbar miteinander aus, kaum dass ich den alten Groll beerdigt hatte.“

Je mehr sein eigenes Lebensende in den Fokus gerät, umso mehr macht er sich Gedanken über Versöhnung und die Sinnlosigkeit alter Fehden – ob nun mit Ono, Lennon oder wem auch immer. Das Harmoniebedürfnis hat allerdings seine Grenzen. Ich frage ihn, ob er sich vorstellen könne, jemals Mark David Chapman zu vergeben. McCartney atmet tief ein. Vielleicht, füge ich an, haben wir ja jetzt nicht die Zeit, um diese Frage erschöpfend zu beantworten. „Doch“, sagt er, „haben wir. Und die Antwort ist: Nein. Das war die Tat eines kompletten Arschlochs. Das ist nicht jemand, mit dem man zufällig nicht so recht warm werden kann, das war weit mehr. Ob man’s nun Bosheit oder Wahnsinn nennt -es ist nicht zu vergeben. Ich glaube, dass ich so ziemlich jedem anderen Menschen auf dieser Erde vergeben könnte, wüsste aber nicht, warum ich gerade ihm verzeihen sollte. Er ist ein Mann, der etwas Furchtbares und furchtbar Endgültiges getan hat. Warum sollte ich ihm meine Vergebung schenken?“

„Wollen wir schnell einen kleinen Tequila kippen?“, fragt er plötzlich. Der grüne Tee ist ja nicht übel, bringt’s aber nicht wirklich. „Nun kommen Sie schon. Lassen Sie uns einen bestellen. Muss jetzt einfach sein.“ Er ruft einen Kellner heran, und kurz darauf stehen zwei Gläser Patrón auf dem Tisch – Massage hin oder her. „Auf uns, auf Gesundheit und Glück!“, ruft er aus. Wir leeren die Gläser mit einem Zug. „Huu-iii“, sagt er und stellt das Glas wieder ab. „Oh, Baby.“

McCartney besitzt ein Haus gleich in der Nähe des Hotels, verbringt aber die meiste Zeit des Jahres in England, um sich um seine neunjährige Tochter Beatrice kümmern zu können. Mit seiner Ex-Frau Heather Mills hat er sich Sorgerecht und Erziehung aufgeteilt. Er hat seine Tourneen und Studiosessions so eingeplant, dass er möglichst viel Zeit mit ihr verbringen kann. Zugleich ist er mit der visuellen Präsentation der nächsten Konzerte beschäftigt. „Ich hab da eine kleine Idee“, sagt er. „Als sich herauskristallisierte, dass das Album ,New‘ heißen würde, hatte ich so was wie eine Vision – halt die Sachen, die man morgens nach dem Aufwachen im Kopf hat: Ich stehe vor einem Wald und trage ein kariertes Hemd, wie es die Holzfäller tragen. Gleich neben mir, mit einem Arm um meine Schulter, steht ein glänzender Roboter. Und im Moment beschäftige ich mich eben mit der Frage, wie ich diesen Roboter auf die Bühne bringen kann. Ich mag einfach die Idee, einen Partner zu haben, der ein Roboter ist.“

„Sicher, es ist eine Schnapsidee“, sagt er. „Wer baut sich schon einen Roboter, nur weil er von einem Roboter geträumt hat? Aber das ist nun mal das, was man in meinem Beruf macht: Man hat Ideen – und versucht dann, sie adäquat umzusetzen. Man hat die Idee zu einem Song – und begleitet ihn bis zu seiner Vollendung.

Er denkt einen Moment nach. „Jedenfalls thematisiert diese Idee offensichtlich ,das Neue‘: Ich bin der Naturbursche, der da draußen im Wald lebt …“- er lächelt -, „… habe aber gleichzeitig diesen Freund, der die moderne Welt ist. Genau genommen: Er ist die Zukunft.“

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates