Blumfeld :: Jenseits von Jedem
Distelmeyers kluge Lieder von Wohl und Wehe des Lebens
Wie jede Platte von Blumfeld, so handelt auch diese vom Ich und der Welt, vom Zufall der Existenz, dem Glück des Moments, der Rebellion gegen selbstverschuldete Unmündigkeit und der Unbegreiflichkeit von Leben und Tod. Allesamt kaum Sujets der Popmusik, der deutschen schon gar nicht. Natürlich überrascht Jochen Distelmeyer bei aller Konsequenz auch diesmal mit zwei, drei Dingen. Die Platte beginnt unter Dampf, mit Bläsern, entfesseltem Piano und schrammelndem Gitarrenspiel: „Sonntag“, eine Ode an die Schöpfung („Alles will blühen“); „Armer Irrer“, ein empathisches Außenseiter-Porträt („Wertlos in der Warenwelt“), und „Krankheit als Weg“, eine Hommage an die Wehwehchen und die Wehleidigkeit („Ein kranker Geist in einem kranken Körper“).
Distelmeyer: das soziale Wesen. Vorn steht er mit Michael Mühlhaus und Andre Rattay in der Hamburger Innenstadt, hinten sitzt er mit ein paar Freunden beim Picknick, und dazu ruft er in dem überhaupt nicht ironischen, durchaus feierlichen Song (und der Single) „Wir sind frei“: „Die Zeit der Heuchler ist vorbei/ Bist du bereit für eine kleine Utopie?“ Wer dazu bereit ist (wir doch allemal!), der wird auch diesmal mit großen Augen und großen Gefühlen durch Distelmeyers Welt gehen, wird in „Neuer Morgen“ (nicht dem von Dylan) die Vögel singen hören und Trost schöpfen, wird wieder mal, in „Der Sturm“, den Elementen und den eigenen Träumen ausgesetzt, wird in Jugend von heute“ die kurrenten Halbstarken zugleich bedauern, bewundern und beklagen, sich gegen die eigene Vergreisung auflehnen.
Kurzum: „Jenseits von Jedem“ ist – nicht nur in dem viertelstündigen, wortmächtigen, überbordenden und natürlich dylanesken Titelsong – ein neues Fest aus Umgangssprache und hohem Ton, kindlicher Euphorie und schmerzender Reflexion, aus Degenhardt und Dylan, Naturlyrik, Erbauungslied und Metaphorik. „Und ich bin hier -jenseits von Jedem/ Allein mit mir und seh dem bunten Treiben zu/ Ich sing mein Lied – das ist mein Leben/ Ich sing für dich, denn alles, was mir fehlt, bist du.“ Die kleine Unbeholfenheit, das unverstellte Münchner Freiheit-Zitat, die Koketterie mit Liebeskitsch – es ist wieder der alte Dornenboy, der hier seine Runden dreht. Der Kenner mag manches Selbstzitat ausmachen, etwa den Nachhall von „Die Diktatur der Angepassten“ („Ihr habt alles falsch gemacht“) in der wunderbar bittersüßen Abrechnung „In der Wirklichkeit“ mit Klavier, Orgel, bedauerndem Chor und Trompeten-Solo. „Du weißt, es fuhrt kein Weg zurück/ Ich grüße dich und wünsch dir Glück/ In der Wirklichkeit.“
Der existenzialistischen Einsicht „Alles macht weiter“ („Planten un Blomen/ Vögel und Schwäne/ Die Zwiebeln im Kühlschrank“), einem raubauzigen Stück nach alter Blumfeld-Art, setzt Jochen Distelmeyer am Ende ein ganz einfaches, nur scheinbar naives Stück entgegen, ähnlich Hüschs „Abendlied“ vom letzten Album: „Und wie wir durch die Landschaft fahren/ Mit Freunden oder nur zu zweit/ An solchen Tagen möchte ich ihr sagen:/ Ich liebe dich. Die Welt ist schön, ich lebe gern.“ Da hat beim ersten Pressetermin mancher gelacht, einfaltig. Distelmeyer singt: „Ich dachte: Vielleicht sind wir/ Nicht da, um zu verstehen/ Wir vergehen, wie wir gekommen sind.“ Aber plötzlich pfeift dieser Schlingel, pfeift sich sein Lied, die Sonne scheint zur Tür herein, ein unglaublicher Moment, er pfeift auf Gott, preist den Augenblick, findet die Liebe, endlich Frieden.
Vielleicht das größte noch Erlebbare diesseits von Eden.