Bob Dylan Another Self Portrait :: Nach all den großartigen Platten der Sechziger muss das erste Dylan-Werk der Siebziger seinerzeit eine ziemliche Enttäuschung gewesen sein. Mit Streichern und Frauenchören gezuckerte Folkund Country-Songs aus fremder Feder und Live-Aufnahmen vom Konzert beim Isle-Of-Wight-Festival, auf denen Dylan sich ausgerechnet bei seinem bekanntesten Song, „Like A Rolling Stone“, ständig versingt. Nicht als Nebenwerk inszeniert, sondern als Doppelalbum mit dem bedeutungsvollen Titel „Self Portrait“.
„What is this shit“, war der legendäre erste Satz von Greil Marcus‘ Rezension im ROLLING STONE. Und er beantwortete die Frage dann gleich selbst: „ein Konzeptalbum vom Schneideraumfußboden, kunstvoll konstruiert, um etwas zu verbergen, nicht um etwas zu enthüllen“. Es scheint tatsächlich, als wollte Dylan sich hier verstecken, hinter seinem „Nashville Skyline“-Twang und den technisch brillanten Performances der fast 50 beteiligten Musiker. Das Album war wohl sein Versuch, sich selbst vom Sockel zu stoßen, um nach Jahren als Einsiedler in Woodstock unbehelligt im Greenwich Village leben zu können.
Im vorigen Jahr sind Aufnahmen aufgetaucht, die Dylan mit Al Kooper und dem Gitarristen David Bromberg in einem New Yorker Studio für „Self Portrait“ machte. Einige von ihnen wurden anschließend nach Nashville geschickt und unter Overdubs begraben, der Großteil aber blieb unveröffentlicht. Dieser Fund ist die Grundlage der zehnten „Bootleg Series“-Folge „Another Self Portrait“, zu der übrigens Greil Marcus die Liner Notes schrieb. Angereichert wurden die Tracks für die zwei CDs/drei LPs mit unveröffentlichten Stücken des Isle-Of-Wight-Konzerts sowie Demos und Outtakes der Sessions zu „Nashville Skyline“ und vor allem „New Morning“, dem Album, das Dylan nur vier Monate nach „Self Portrait“ als Reaktion auf die Kritikerschelte veröffentlichte.
Das Erste, was beim Hören dieser Aufnahmen auffällt: Die Maske ist weg -Dylan klingt entspannt, als fühlte er sich unbeobachtet. Neugierig nähert er sich diesen fremden Liedern und eignet sie sich an. Da hört man Parallelen zur Intimität der „Basement Tapes“, von denen hier -aus der Chronologie fallend -eine Aufnahme von „Minstrel Boy“ zu hören ist. Auch die beiden ausgewählten Performances des Isle-Of-Wight-Auftritts zeigen, dass Dylan und The Band den archaischen R&B und Geisterstunden-Folk der Kellersessions weitertragen wollten. Neben der remasterten Version des Originalalbums liegt dieser lässige und inspirierte Auftritt der Deluxe-Edition von „Another Self Portrait“ in voller Länge bei.
Die Lieder, die später auf „New Morning“ erschienen, tauchten großenteils schon während der „Self Portrait“-Sessions auf. „Another Self Portrait“ offenbart eine filigrane Folk-und eine sich langsam vortastende Jazzversion von „Went To See The Gypsy“, zwei rohe, spontane Takes von „Time Passes Slowly“ und ein wunderschönes „If Dogs Run Free“ im Country-Arrangement. Dylan singt allein am Klavier „When I Paint My Masterpiece“ und spielt mit George Harrison das bisher unveröffentlichte „Working On A Guru“.“New Morning“,“If Not For You“ und „Sign On The Window“ erscheinen hier mit betörenden Bläser-und Streicher-Overdubs, die wohl nach den Kritiken für das zuckrige „Self Portrait“ zurückgehalten wurden.
Keines der zwischen 1969 und 1971 veröffentlichten Alben ist so inspiriert und ingeniös, so bezirzend und beglückend wie „Another Self Portrait“. Auf diesem Selbstbildnis erkennt man wohl sehr viel deutlicher, wer Bob Dylan damals war. Ein Konzeptalbum vom Schneideraumfußboden, das mehr enthüllt, als es verbirgt.(Columbia) MAIK BRÜGGEMEYER