Chemical Brothers – Surrender :: Virgin

3,5 Surrender VIRGIN Neu Young hatte recht: „Rock’n’Roll will never die!“ Jedenfalls nicht, so lange der Höhlenmensch in uns weiter lebt. Der innere Neanderthaler, der Kerle wie uns an Hauswände urinieren läßt, der uns befiehlt, mehr Bier zu trinken, als wir vertragen, und der schuld daran ist, daß wir immer wieder versuchen, im Anschluß an Rockkonzerte Frauen in unsere Höhlen zu zerren – auch wenn das selten klappt. Ach ja, glückliches, primitives Rock’n’Roll-Zeitalter. Eine Zeit lang harten Troglodyten es ziemlich schwer, Sie wissen schon: Techno, House, HipHop. Dekonstruktivismus, postmoderne Diskurse und dieses ganze Zeug. Doch bald darauf kamen dann Prodigy, Big Beat und die Chemical Brothers, und das Dasein als Höhlenmensch bekam endlich wieder einen Sinn. In den Qubs durfte man ungestört Luftgitarre spielen, und ein wenig Headbangen war auch erlaubt Kurz: Die Chemical Brothers retteten den Rock’n’Roll. Deshalb sind die Ex-Geschichtsstudenten aus Manchester die Brüder von Elvis und Johnny Rotten – dachten wir. Warum auch nicht, schließlich sang ja sogar Noel Gallagher auf dem ’97er Album“Z)ig YburOwn Hole“ den Song „Setting Sun“. Und überhaupt waren die Beats und Sounds des britischen Duos die moderne Umsetzung dessen, was man früher ganz gern „Schweinerock“ nannte; also „Smoke On The Water“ auf 45 Umdrehungen, mit einer Portion Feedback extra. Logischerweise bekam die Band im März einen Grammy – für das beste „Rock Instrumental“ des letzten Jahres: „Block Rockin‘ Beats“. Hey hey, my my. TonträgerUnd jetzt? Was ist das? Das „Weiße Album“? Psychedelic-Power? Die Erleuchtung? Haben die Chemical Brothers einen Guru? Wie ist sein Name? Was für Drogen hat er Ed Simmons und Tom Rowlands gegeben? Diese Fragen müssen erlaubt sein angesichts einer Platte, die die Hippie-Attitüde der Sechziger mit dem Rave-Bewußtsein der Neunziger verbindet und dabei ganz dezent dem Singer-Songwritertum frönt. Schon der Titel gibt die Richtung vor: „Surrender“. Das bedeutet übersetzt „Hingabe“, möglicherweise an einen Gott, oder naheliegender – „Hingabe“ an die Musik oder eben die neuen Einflüsse im Leben der beiden DJs und Produzenten. Zwölf Monate haben die Chemical Brothers an dieser Platte gearbeitet, die allerdings nicht wirklich einen Bruch darstellt zu den beiden Vorgänger-Alben. Denn schon bei JXg Übur Otm Hole“ konnte man erahnen, was passiert, wenn man Acid-House und Add-Rock konsequent zusammen- oder gar weiterdenkt: Zum Beispiel: „Ein Meer aus Licht und Farben“ (Juliane Werding), ein Antonioni-Film zum Hören und ähnlicher Quatsch, der einem durch den Kopf geht, wenn die Musik plötzlich psychedelisch blubbert und rauscht Und hey, eine Band, die sich Chemical Brothers nennt, kann niemandem erzählen, daß es bei ihnen auch ohne Drogen geht Die Frage ist nur: Welche waren es diesmal? „Surrender“ startet zunächst recht konventionell mit den mittelgroßen Beats von „Music: Response“. Nett, aber för die große Millenniums-Party dann doch etwas zu unoriginell. Auch „Under The Influence“ wird keinen Innovationspreis gewinnen, aber immerhin ist dieser Techno-Stampfer schön hypnotisch und sehr gut tanzbar. „Schnell noch ’ne Prise Angel Dust und dann ab auf die Tanzfläche!“ wird man in den einschlägigen Clubs gut gelaunt darüber sagen. Danach kommt das erste Highlight der Platte: Bernard „New Order“ Sumner (assistiert von Bobby „Primat Scream“ Gülespie) singt „Out Of Control“. Diese „I-see-a-ship-in-the-harbour“-Stimme, die „Blue Monday“ zu einem Monument der Achtziger werden ließ, macht auch aus diesem Stück einen bezaubernden Popsong, der zum Ende hin noch mal ordentlich aufgerauht wird. Spätestens bei „Orange Wedge“ ist es an der Zeit, die Lavalampe einzuschalten und ein paar Räucherstäbchen abzufackeln, denn im nächsten Stück, „Let Forever Be“, macht uns Noel Gallagher den George Harrison: Sein sehnsuchtsvoller Gesang wird unterstützt von Harmonium-Klängen und einem Baß, der entfernt an „Tomorrow Never Knows“ erinnert Ein gutes Dutzend Soundeffekte sorgt zusätzlich für prima LSD-Stimmung. „Sunshine Underground“ setzt noch einen drauf: Friedliches Krishna-Geklingel am Anfang, ein paar Steve-Reich-Samples in der Mitte, und gegen Ende bollert dazu auch noch ein fetter Dancefloor-Wumms. Zeit, ein zweites Räucherstäbchen anzuzünden, denn nun haucht Mazzy Star-Sängerin Hope Sandoval „Asleep From Day“. Das klingt so bittersüß wie ein verlorengegangenes Lied vom dritten felvet Underground-Album. Märchenhaft. „Hey Boy, Hey Girl“ fallt danach etwas aus dem Marihuana-und-Sandelholz-Rahmen: Oldschool-Electro trifft Acid-House unterm Strobelight-Gewitter. Nach einem weiteren Sitar- und Glöckchenklingel-Intermezzo läßt Jonathan Donahue von Mercury Rev das Album ausklingen, als wär’s ein Stück seiner exzellenten Band. „Dream On“ klingt, als wäre der Song dort entstanden, wo die Chemical Brothers im Sommer auftreten – in Woodstock. Und spätestens dann wird sich der Kreis wieder schließen. Denn so schön dieses gelungene Album klingt: Viele Rock’n’Roll-Höhlenmenschen träumen schon jetzt von einem Big-Beat-Schlammbad auf heiligem Grund. JÖRGEN ZIEMER

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