Das verborgene Leben des J. D. Salinger
Behütete Jugend, Kriegsgräuel, Welterfolg und Menschenflucht: Eine neue Biografie beschreibt das langsame Verschwinden des J. D. Salinger, des Dichters von „Der Fänger im Roggen“
von Kenneth Slawenski
Das lange Leben des J. D. Salinger fand im Wesentlichen an drei Orten statt: in einem Apartment in der Park Avenue in Manhattan, an verschiedenen Kriegsschauplätzen in Frankreich und Deutschland sowie fast 60 Jahre lang auf einem Grundstück in Cornish, New Hampshire. Salinger brachte vier Bücher binnen einem Jahrzehnt heraus und veröffentlichte nach der Kurzgeschichte „Hapworth, 16, 1924“ im Jahr 1965 nichts mehr.
Interviews gab er nur einer Schülerzeitung und wenn sich junge Reporterinnen als vermeintlich arglose Bewunderinnen in sein Vertrauen schlichen, einmal telefonierte er auch 20 Minuten mürrisch mit einem Journalisten. Ein einziges Mal schrieb er einen ermunternden Brief an eine junge Studentin, die ein Erstlingswerk geschrieben hatte – und bereute es bitter: 1998 veröffentlichte Joyce Maynard ihre Erinnerungen an die ein Jahr währende Romanze von 1972 und desavouierte den längst von der Aura des Mystischen umrankten Autor als verschrobenen, paranoiden und tobsüchtigen Kontrollfreak und Lustmolch.
Salinger war dreimal verheiratet: etwa ein Jahr lang mit einer französischen Krankenschwester, mit der er nach dem Krieg bei seinen Eltern wohnte, dann mit einer treuherzigen Gefährtin, die ihm in der Zurückgezogenheit zwei Kinder gebar, die längste Zeit ohne ihn auskommen musste und sich 1967 scheiden ließ – und schließlich, seit 1992, mit einer 40 Jahre jüngeren Krankenschwester aus dem nahe gelegenen Dorf, die nebenbei gern Quilts häkelte.
Kenneth Slawenski, der eine Salinger-Website betreibt, hatte die umfangreiche Biografie gerade beendet, als J. D. Salinger im Januar 2010 starb. So konnte der Schriftsteller nicht mehr gegen das Buch klagen, wozu er allerdings auch kaum einen Grund gehabt hätte: Anders als Ian Hamilton 1987 hat Slawenski kaum Nachteiliges zu berichten, beurteilt allenfalls manche frühe Kurzgeschichte als schwach. Er umreißt die Erzählungen der 40er-Jahre, die in Zeitschriften, aber nie als Buch publiziert wurden und deren Nachdruck von Salinger verhindert wurde. Aus etwa 40 Geschichten suchte der Autor die „Neun Erzählungen“ für den Band von 1953 aus. „Mit seinen frühen Kurzgeschichten ist Salinger ein echter technischer Durchbruch gelungen – und ich hoffe noch immer, dass er sicher auf der anderen Seite ankommen wird“, schrieb John Updike.
Die Suche nach J. D. Salinger faszinierte die literarischen Detektive schon in den 50er-Jahren, als er seine Erzählungen für den „New Yorker“ schrieb und sich immer konsequenter aus der Öffentlichkeit zurückzog. Salinger wurde 1919 in die wohlhabende Familie eines Käsehändlers geboren, scheiterte an New Yorker Schulen und kam auf ein Militärinternat, wo er sich als sarkastischer Redakteur der Schülerzeitung hervortat. 1938 bereiste er Deutschland und Polen und wohnte in Wien bei einer jüdischen Familie, die später von den Nazis ermordet wurde. Nach einem Jahr war er wieder in Manhattan, studierte halbherzig und schrieb weiterhin Geschichten, die in Hochglanzblättern wie „Collier’s“ und „Esquire“ veröffentlicht wurden. 1942 meldete Salinger sich zum Militär und wurde in New Jersey und Georgia stationiert. Er war in Oona, die Tochter des Dramatikers Eugene O’Neill, verliebt und schmollte, als sie Charles Chaplin heiratete. 1944 nahm Salinger als Offizier des Nachrichtendienstes an der Invasion der Alliierten teil und geriet mit der 12. Infanterie-Division in das Gemetzel im Hürtgenwald, eine der schlimmsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, die nur jeder zehnte amerikanische Soldat überlebte.
Schon nach der Befreiung von Paris hatte er Ernest Hemingway getroffen, der als Kriegsberichterstatter im Ritz residierte und dem jungen Kollegen „verteufeltes Talent“ attestierte. Auch im Schützengraben schrieb Salinger, angetan mit Mutters Wollsocken, wie besessen weiter. Einige Erzählungen, in denen ein Held namens Caulfield vorkam, waren für ein Kompendium mit dem Titel „The Young Folks“ vorgesehen. Das erschien nie, doch jetzt nahm endlich der „New Yorker“ viele von Salingers verrätselten, von seelisch verwundeten Menschen handelnde Geschichten an. Einzelne Kapitel des „Fängers“ hatte Salinger fast zehn Jahre lang vorbereitet. Als das Meisterwerk 1951 erschien, wurden die lose Struktur des Romans und das lose Mundwerk des Protagonisten gerügt; es gab Zensurversuche. Doch die Nachkriegsjugend machte das Buch zum Bestseller – ebenso wie später die sperrigen, esoterischen Erzählungsbände um die Familie Glass, „Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute“ und, ,Franny und Zooey“.
Nach dem Tod von J. D. Salinger lasen Bewunderer im Internet aus seinem Werk vor – „Der Fänger im Roggen“ ist ihr Mantra: „Don’t ever tell anybody anything. If you do, you start missing everybody.“ (Rogner & Bernhard, 29,95 Euro) Arne willander