Einstürzende Neubauten – 1/2 Mensch: Umfassende Edition mit den frühen Alben der Avantgardisten :: INDIGO

Früher (um nicht schon wieder zu sagen: in den achtziger Jahren) war es bei Besprechungen von Platten der Einstürzenden Neubauten üblich, zwei unterschiedliche Wertungen zu vergeben, für Normalhörer (wenig Punkte) respektive Eingeweihte (viele Punkte). Würden wir das heute bei Alben der Nine Inch Nails machen, kämen sich die Normalhörer mit Recht verarscht vor, und Blixa Bargeld würde an der Stelle staatsmännisch dazwischenreden, dass ja genau das sein historisches Verdienst sei.

Dass die Einstürzenden Neubauten eine sehr typische Bandgeschichte durchlaufen haben wilde Frühphase, experimentelle Mitte, joviales Alterswerk muss kaum bewiesen werden. Die restaurierte Wiederveröffentlichung von vier Alben (seinerzeit auf Rough Trade bzw. What’s So Funny About, jetzt mit Bonustracks) erlaubt nun den Zusatz, dass die Zeit den Schreckwert weiter gemindert hat – vieles klingt heute erstaunlich maniriert JZeichntmgendesPotientenO.T.“{2,5),

1983 noch mit echten Schraubenschlüsseln eingespielt, bildet die bei der Performance ausgeübte Wucht nicht ab. Rein aufnahmetechnisch und weil sie den Krach nicht kanalisieren wollten. Kinder, die im Schrott spielen, Bargeld als SpokenWord-Bazillus, der von der eigenen Vision hilflos überrumpelt scheint: „Und ich will nicht länger warten, bis Gottes unendlicher Hoden endlich in Flammen aufgeht.“ Vor allem Konzept.

Komischerweise klangen die Platten der Popgruppe Depeche Mode damals weit industrieller, und mit deren Produzent Gareth Jones nahmen die Einstürzenden Neubauten zweijahre später „1/2 Mensch“ auf, ihre Überplatte mit verstörenden Disco-Bezügen und einer schwarzromantischen ‚Version von Free-Jazz-Punk-Crossover. Der Rhythmus auf „Yü-Gung“ ist das Klappern der Klinge auf dem Koks-Spiegel, die alte Garstigkeit, mit der Ketten und Fingernägel über Metall gezogen werden, ist vollständig präsent – nur, dass die Neubauten an dem Punkt gemerkt hatten, dass die Stille den Schrecken nährt Und „Letztes Biest (am Himmel)“ glänzt als erster Moment ausgemergelter Melancholie in Bargelds dichterischem Werk.

Unterschätzt wurde das zum Anfassen plastisch produzierte „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ (1987, 4,0), fast eine Gitarrenband-Platte, bis auf den Hummelschwarm „Ich bin’s“ ambient und ruhig. Blixa Bargeld murmelt das Folkrock-Standard „Morning Dew“ und wirkt dabei wahrhaft ergriffen. Überschätzt dagegen: „Haus der Lüge“(l989, 2,5 ), das mit rollendem R, Bänkelsang und Holzschnitt-Ästhetik die unheilige Bresche für Sackpfeifen wie Corvus Corax schlug. Trotzig wird auf Flaschen geklopft, obwohl die Band längst weiter ist, und das ganze Pathos der Tbncollage über Berliner Straßenkrawalle entlädt sich erst im Angesicht des Eighties-Rock-Stücks „Feurio!“.

Ab und zu singt Blixa Bargeld hier übrigens wie Rio Reiser. Kaum überraschend – spätestens da war er fertig für den Eintritt in die Galerie großer Deutscher.

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