Elvis Presley :: Good Rockin‘ Tonight – Elvis 75
In dem Fall anderer Meinung als John Lennon und Millionen Fans, vertrat Ry Cooder mal mutig die These, Elvis Presley sei nur in seinen Rockabilly-Anfängen als großer und origineller Künstler bewundernswert gewesen. Dass er dann trotzdem eine Cover-Version von „Little Sister“ aufnahm, muss demnach mehr mit seinem Faible für diesen Song als mit dem Sänger und dessen interpretatorischer Leistung zu tun gehabt haben.
Diese Komposition des legendären Teams Doc Pomus/Mort Shuman hatte Elvis nach seinem erfolgreichen Comeback während der zweitägigen Sessions Ende Juni 1961 aufgenommen, und sie wurde wie „His Latest Flame“ von derselben Aufnahmesitzung sofort ein Top-5-Hit. Seine Stimme war dabei eine merklich andere als bei den für Sam Phillips gemachten Klassikern wie „Mystery Train“, „I Love You Because“, „Good Rockin‘ Tonight“ oder „That’s All Right“. Scotty Moore, Floyd Cramer und die übrigen Cracks bürgten für ein vergleichsweise höheres professionelles Niveau. Aber für die klangfarblich deutlich anderen Valeurs in der Stimme des Sängers war sicher nicht nur das technisch hochkarätigere Equipment im RCA Studio B in Nashville verantwortlich. Ein gewisses Sound-Design kultivierten hier, unwillkürlich oder bewusst, die Tonleute bei Elvis‘ Stimme auch schon, nicht erst bei den Aufnahmen in den American Studios von Chips Moman 1968 oder bei dem NBC-TV-Special, die sein zweites großes Comeback einläuten sollten.
„Just Because“, „I’m Counting On You“ und „I Love You Because“, für den ganz frühen Elvis typische und ganz eigenwillig interpretierte Balladen, fehlen unter den hundert Songs des Box-Sets, „Little Sister“ nicht. Was bei dieser Retrospektive auch insofern instruktiv ist, als man seine Entwicklung über alle Phasen hinweg chronologisch verfolgen kann.
Manche Verächter, die immer schon behaupteten, Elvis sei nach seinem Abschied von der Armee und der Rückkehr ins Tonstudio einfach nicht mehr derselbe gewesen, werden sich hier möglicherweise bestätigt fühlen. Wer die frühen Elvis-Aufnahmen noch von den seinerzeit veröffentlichten Singles oder etwa von „For LP Fans Only“ kennt, dürfte sich wundern, wenn er sich mal den Spaß erlaubt, das halbe Dutzend hier auftauchender SunSingles mit den dort überspielten Versionen zu vergleichen. Elvis Presleys Sun-Aufnahmen wurden nämlich im Lauf der Jahre häufiger gezielt einem Sound-Design beim immer neuen Remastering unterzogen als sämtliche vergleichbaren Allzeit-Klassiker von Robert Johnson und Skip James bis Little Richard oder Chuck Berry.
Stolz weisen die Nachlassverwalter Ernst Mikael Jorgensen und Roger Semon in ihrem Vorwort daraufhin, dass es sich bei dieser Auswahl von 100 Aufnahmen aus den 711 Master Recordings zu Elvis‘ Lebzeiten um die definitive Summe handle, wenn man die auf vier CDs beschränkt, und dass man dabei die bestmögliche Überspieltechnik eingesetzt habe. Für diese Auswahl war nicht stur Hitparaden-Position maßgeblich. Da findet man wie im Vorwort angekündigt auch die eine oder andere obskure Aufnahme von nicht geringerem musikalischem oder historischem Rang als die Hits.
Die langen Liner Notes schrieb diesmal nicht Peter Guralnick, sondern Billy Altman. Der widmet der Hollywood-Karriere des Sängers während der 60er-Jahre genau vier Zeilen und den Satz: „His Southern roots seemed as buried as his once naturally brown, now jet black dyed hair.“ Liner Notes sparte man sich komplett bei der abgespeckten 3-CD-Edition mit 75 Aufnahmen.