Jarvis Cocker :: Jarvis

Ein dramaturgisch raffiniertes Hilfsalbum für moderne Menschen

Nach allem, was man hörte, hatten die Schrullen noch zugenommen. Er verkleidete sich als Gruselgerippe, schrieb Lieder für fast noch junge und entschieden ältliche Töchter großer Männer, heiratete eine Französin, gab in Musikmagazinen Ratschläge zur Lebensführung (weniger Erfolg! Mehr Bücher!) hampelte im Kinderfilm, las im Internet Geschichten über entlaufene Kühe vor. Klar war man ängstlich, was das neuerliche musikalische Schaffen bringen sollte, leicht nervös wie beim Wiedersehen mit dem lange verreisten Lieblingsonkel mit den komischen Schuhen. Doch dann reicht er einem einen Apfelschnitz, und alles ist wieder, wie es war. Jarvis Cocker, der spirrige against-all-odds-Held, der schon fenstergroße Brillengläser trug, als das noch so cool war wie Gürtelrose, der die schlauesten, herzwärmendsten Texte des so genannten Britpop schrieb und dessen Band Pulp man sich vielleicht nicht täglich, aber doch ziemlich oft zurückträumt, hat also nach einigen Umtrieben ein Soloalbum aufgenommen mit ziemlich schlauen, herzwärmenden Texten. „Jarvis“ ist ein Not- und Hilfsalbum für den durchschnittlich schizophrenen, stimmungsflexiblen Menschen, ein leichtfüßiger Spaziergang über die Schräglagen des modernen Lebens, ohne die offensichtlichen Hits, die einem sofort zutraulich und gefallsüchtig auf den Arm springen (das Konsensstück „Cunts Are Still Running The World“, dieses hymnische „Mis-shapes“ revisited, ist als hidden track verräumt), doch mit unglaublicher stilistischer Vielfalt von Schmonzrock, samtpfötigen Balladen, Punkschneuzerund Ba-ba-ba-ba-Schmeichler. Kein kruder Mischmasch, sondern dramaturgische Raffinesse. „Black Magic“ borgt Gitarren und Sirenenchor von „Crimson and Clover“ von Tommy Jones and the Shondells. Das glückselige Tralalatörtchen „Baby’s Coming Back“ (wie „Don’t Let Him Waste Your Time“ ursprünglich für Nancy Sinatra geschrieben) klingt, als würden hier Xylofon und Glucks-Keyboard von kleinen Hasen und Backenhörnchen bedient – allerdings so monströsen kleinen Hasen und Backenhörnchen, dass das Niedliche ins Grotesk-Bedrohliche umschlägt, das nie ironische, sondern schon leicht irre Züge trägt.

Hierin liegt das Wunderbare an „Jarvis“: Das Unbehagen ist immer da, mal mehr, mal weniger unterschwellig. In der erschöpften Rebellion von „I Will Kill Again“, in der Idyllenkritik „Disney Time“, im Weltekel des Untergangsschlagers „From A To I“ ohnehin. Es bleibt schwierig, lautet die tröstliche Botschaft, auch mit Frau und Kind und über 30. Jarvis Cocker spannt den Schauderbogen von der privaten kitchensink-Elendsschau bis zum großen globalen Schlamassel: „It’s the same from Auschwitz to Ipswich“, und das allumfassende Böse ist auch Privatangelegenheit, weil es aus dem Inneren jedes einzelnen Menschen kommt. „Jarvis“ ist kein Jammeralbum und um Gottes willen kein moralisches Lehrstück, es legt nur behutsam den Finger in vielerlei Wunden und drückt hier und da sanft auf einen Pickel: „And you cannot set the world to rights/ But you could stop bein gwrong. Tonight.“ Ein süßsaurer Apfelschnitz vom Verunsicherungsonkel.

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