June Tabor – Aleyn
Richard Thompsons „The Great Valerio“ ist eine Allegorie, der traumwandlerisch sichere Seiltänzer ein Sinnbild für die meisterliche Bewältigung des Lebens, die sehnsuchtsvoll nach oben starrende Menge sind wir: „We wonder at the sight/ We stumble in the mire/ Fools who think they see the light/ Prepare to balance on the wire.“ Auf,,/ Want To See The Brivht Lights Tonight ‚, der ersten epochalen LP von Richard & Linda Thompson, war „Valerio“ der Epilog, ein afterthought über das ewige Scheitern, und Linda sang dieses Sehnen mit stillem Pathos.
June Tabor setzt „Valerio“ an den Anfang von „Aleyn“, beginnt tonlos, fast wie in Trance, unterlegt erst das persönliche Credo mit leiser Emphase: „Fm your friend until you use me/ And then be sure I won’t be there.“ Zur Hälfte sind die Songs auf „Aleyn“ Traditionais, doch klingen alle, als stammten sie aus einer anderen Zeit, einer parallelen Wirklichkeit. Dabei müssen nur Daten, Namen und Orte ausgetauscht werden, und schon befinden wir uns in der nicht minder häßlichen Gegenwart. „1952 in Croydon town/ The streets still scarred from the war/ November that year food was scarcely off the ration/ Two boys went out to rob a störe“, beginnt die wahre Geschichte von JBentley And Craig“, die am Galgen endet. Ralph McTell hat diese Reportage geschrieben, Wizz Jones hat sie an June Tabor weitergereicht. Eine mündliche Überlieferung also, ein zeitgenössisches Traditional.
Auch andere Songs auf „Aleyn“ gehorchen diesem Prinzip der Wahrhaftigkeit durch historische Verbürgtheit, durch eigenes Erleben gar. Wie „Di nakht“, ein jiddisches Lament über Einsamkeit und Isolation, das 1929 von zwei osteuropäischen Emigranten in New York komponiert wurde, seinen Weg zurück fand in die Juden-Ghettos und Konzentrationslager, und schließlich an June Tabors Ohr drang aus dem Mund einer Überlebenden von Auschwitz. Auch das ist Folk Music, weitab von Folklore und in diametraler Gegnerschaft zum tumben Dirndl-Holdrio, das hierzulande unter dem Rubrum Volksmusik firmiert.
Drei Jahre nach ihrem letzten Album markiert ,^4leyn“ für June Tabor eine Rückkehr zu ihren Anfangen, eine Rückkehr auch zu ihrem ursprünglichen LabeL Der Kreis hat sich dennoch nicht vollständig geschlossen und wird es wohl auch nimmer. Dazu hat June Tabor seit ihrem legendären Debüt tr 4irs And Graces“ zu viele Umwege gemacht. Der hölzerne Folk Rock mit der Oyster Band und ihr etwas bemühter Spagat ins Jazz-Fach haben ebenso Spuren hinterlassen wie das europäische Liedgut von Kurt Weill bis Francoise Hardy. Was nicht heißt, daß June Tabor sich nicht mehr konzentrieren könne aufs Erbe Albions, sondern eher, daß sie es wohl nicht mehr will. Aus der eisigen, unnahbaren Stilistin des englischen Folk ist eine kosmopolitischere Künstlerin geworden. Würde es nicht so blöd klingen, könnte man sagen: eine Chanteuse. Ohne frankophile Schwüle freilich, aber mit jeder Menge sophistication.
Das gilt nicht minder für das
Backing auf tr Aleyn“. Vom jazzig angehauchten Piano ihres alten Mitstreiters Huw Warren bis zum intrikaten Interplay von Akkordeon, Klarinette und allerlei Streichinstrumenten. Kühl ist das Klangbild, distanziert oft der Gesang. June Täbor mag weitaus bessere Platten gemacht haben, „Abyssinians“ zum Beispiel oder auch „Agaimt The Streams , doch hat ,/lleyn“ ebenfalls etwas, das jenseits der Reichweite anderer, sogar guter Sängerinnen liegt, Norma Waterson ausgenommen: Klasse. 3,5