Kettcar – Sylt :: Mehr Wut. nicht weniger Herz: Die Hamburger überdie Lage des Landes

Mitte, Ende Dreißig und das Schlimmste noch längst nicht hinter sich. Da haben wir die Dotcom-Blase überstanden und den Börsencrash, den Aufschlag auf den scheinbaren Boden überlebt -— und dann tun sich immer neue Böden auf. Wir können nicht zurück, in die 70er oder wenigstens die 80er Jahre, wir wollten das auch nie. Doch mit der Welt seit 2001 möchten wir auch wenig zu tun haben. Es herrscht Verwirrung. Etwas muss getan werden, aber was?

Marcus Wiebusch weiß es auch nicht, aber er gibt sich verdammt viel Mühe, wenigstens die richtigen Fragen zu stellen. Es gab nie so viele Fragen bei Kettcar, und so wenige Antworten. Der Sound von „Sylt“ passt dazu, auch wenn er nicht jedem Hörer passen wird: Es kracht, es rumort, von Gefühligkeit nur noch Spuren. Gleich drei Produzenten – Moses Schneider, Tobias Siebert und Swen Meyerwaren am Werk, das trägt nicht gerade zu einem harmonischen Gesamtbild bei. Es ist ja eine schöne Idee, den Gesang mal nicht ganz nach vorn zu mischen, wie das all die billigen modernen Deutsch rockbands machen, aber man sollte die Zeilen schon noch verstehen können, und das ist bei „Graceland“ oder „Wir werden nie enttäuscht werden“ nicht immer leicht. Auch „Dunkel“ geht streckenweise etwas im Dumpfdröhn unter, und „Agnostik für Anfänger“ nervt mit dem wiederholten „Langweilig!“. Mehr gibt’s dann allerdings nicht zu beanstanden. Wenn man sich mit dem neuen Ansatz vertraut gemacht hat, ist der Rest schlicht Kettcar in Bestform.

Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff erzählen Geschichten, die einem so bekannt vorkommen, dass es wehtut. Zuerst kriegen einen die ruhigeren, kunstvolleren Stücke wie „Verraten“, das all die Einsamkeit und Verzweiflung beschreibt, die der Verlust der Kindheit mit sich bringt, wann immer er einen erwischt, oder das lakonisch ratlose „Am Tisch“ mit Gastsänger Niels Frevert. Doch die krachigeren Rocksongs treffen nicht weniger ins Herz. Das wütende „Wir müssen das nicht tun“ erzählt von einer schiefgegangen Beziehung und den sinnlosen Versuchen, das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuziehen. So fies klangen Kettcar noch nie, der Song treibt gnadenlos auf sein bitterböse Ende zu. „Fake For Real“ verbindet die Ängste nachdem n. September mit dem unangenehmen Gefühl, dass Arbeitnehmer nur noch „Kostenfaktoren“ sind. Das würde Frank-Walter Steinmeier gefallen! Um die schöne neue Welt zwischen Hamsterrad und Paybackpunkten, Aufschwung und letztem Aufbäumen geht es auch in „Geringfügig, befristet, raus“ und „Würde“. Es sind keine schönen Themen, aber selten hat ein Album so genau beschrieben, wie sich das Leben momentan anfühlt für alle, denen nicht passt, was in diesem Land passiert.

Das letzte Stück heißt relativ hoffnungsfroh „Wir werden nie enttäuscht werden“, und es gibt einen kleinen Ausweg. „In die Kunst, um sich in ihr ganz zu versenken/ Ein Leben zu leben und keins zu verschenken.“ Also: weitermachen.

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