Lou Reed – Set The Twilight Reeling

First came fire then came light/ Then came feeling then came sight“ Die letzten Zeilen aus „Finish Line“ bringen den Impetus von Lou Reed auf den Punkt: Er sucht die Klarsicht. Eine Klarsicht, die aus einem Gefühl erwächst, so wie das Licht dem Feuer entspringt. Wem das zu pathetisch klingt, soll ausschalten. So hat Reed dem Rock’n‘ Roll ein paar seiner – bleiben wir im Bild – lichtesten Momente beschert. Doch er hat auch schon mal das Feuer mit der Erleuchtung verwechselt und Schaden angerichtet Es gibt Menschen, die behaupten, mit dem Alter stelle sich eine gewisse Gelassenheit ein. Die Vorstellung behagt mir nicht, und das Rock’n’Roll-Animal ist ein Beispiel dafür, daß mit den Jahren keineswegs die Ruhe kommen muß, daß nicht jede Falte im Gesicht eine Antwort bedeutet – auch wenn es uns Reed oft vorgegaukelt hat. In den letzten Jahren versuchte er immer wieder seinen Drang nach Klarsicht durch ambitiöse Konzeptalben zu befriedigen. Aber läßt sich die Welt wirklich in 50 Minuten erklären?

Manchmal, wenn man den richtigen Ausschnitt wählt. So schuf Lou Reed 1989 mit „New York“ das Sittengemälde einer von Entfremdung und Auflösung geprägten Gesellschaft, zuweilen melodramatisch im Gestus und doch bis ins Detail von Wissen durchdrungen. Der radikale Humanismus der Texte spiegelte sich in der entmechanisierten Sound-Arbeit.

Doch „Songs For Drella“, ein mit John Cale eingespieltes Requiem für Andy Warhol, geriet darauf zum Fiasko. In „I Believe“ rechtfertigte Reed die Todesstrafe – und dies war nicht etwa ein „dramaturgischer Kniff“. Eine Entgleisung, die die ansonsten sinnige Song-Sammlung entwertet. Das Thema Tod ließ Reed auch danach nicht ruhen. Auf „Magic AndLoss“ leistete er 1992 ein weiteres Mal Trauerarbeit – durch ein ausgeklügeltes Konstrukt sollte dem Tod ein Sinn gegeben werden.

Aber einige Dinge lassen sich nun einmal nicht erklären. Was keineswegs heißt, daß nicht über sie gesungen werden könnte. Auf „Blue Mask“ von 1982, seinem besten Solo-Werk, erinnert Reed an seinen verstorbenen Mentor Delmore Schwartz, und er beschreibt den Tag, an dem John F. Kennedy ermordet wurde. Wie hier der Tod behandelt wird, neben Songs über Frauen und Gitarren, verrät mehr über das Sein als der angestrengte Überbau von „Magic And Loss“. Auch „Blue Mask“ unterlag einem Konzept, aber das war nicht in dicken Lettern aufs Cover gedruckt.

„Set The Twilight Reeling“ knüpft strukturell an ,ßlue Mask“ an. Das Album nutzt den Zustand temporärer Harmonie, den man erreicht, wenn von einer Nacht auf die andere ein neuer Lebensabschnitt beginnt, wie es Reed im Titelsong beschreibt: „I accept the new found man and set the twilight reeling.“ Ein Zustand ist das, durch den man um sich und in sich und zurückschauen kann, ohne künstlich Kontinuität zu schaffen. Die große Klammer ist wieder einmal der vollkommen entkleidete Gitarren-Klang, den der Sound-Pedant Reed schafft Diesmal alleine an (fast) sämtlichen Gitarren.

Der heiteren Jugend-Erinnerung „Egg Cream„, mit massiven Sound-Schüben vorangetrieben, folgt etwa das Selbstbildnis „NYC Man“, in dem die soulige Baßlinie nah an „Walk On The Wild Side“ groovt. Überhaupt der Baß: Fernando Saunders schafft immer wieder Kontrapunkte. Die monochromen Noise-Minimalismen des Chefs unterlegt er mit gleitenden Jazz-Lyrismen; greift Reed komplexer, reduziert er sein Spiel.

Auf diesem Album gibt es keine Show-Offs, keine Zweckentfremdungen. Der speckige Blues-Rock „Sex With Your Parents (Motherfucker)“, bei dem Reed mit einem derben Wortspiel gegen die Bigotterie der Republikaner zu Felde zieht, steht ebenso im Dienst einer bestimmten Sache wie die förmlich gefluteten Verstärker in dem Frauenporträt „Riptide“.

Lou Reed hat endlich sein Gleichgewicht wiedergefunden.

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