Nirvana – Live At Reading
Der Auftritt beim Festival in Reading zeigt die Band am Rande der Auflösung — eine der Sternstunden der Rochmusik.
Ein Rollstuhl wird auf die große, beinahe leere Bühne geschoben, darin ein hutzeliges Wesen. Krist Novoselic sagt ins Mikrofon, es sei sehr „traurig, aber mit Hilfe von Freunden und Verwandten“ sei dies möglich geworden. Kurt Cobain erhebt sich aus dem Rollstuhl, wirft die blonde Perücke weg, schnallt die Gitarre um. Er trägt einen Kittel, wie man ihn aus dem Krankenhaus kennt. 30. August 1992, Nacht in Reading, vor der Bühne vielleicht 40 000 Zuhörer, vielleicht mehr.
Während das Trio die Songs von zwei Alben aus den Instrumenten zerrt, hampelt ein Fan seinen Veitstanz in der Bühnenmitte, verschwindet, hält inne, beginnt wieder mit dem autistischen Schütteln. Überall wäre solch eine Aufführung – der Rollstuhl, der irre Tänzer – eine Geschmacklosigkeit, womöglich die Parodie eines Rock-Konzertes. Aber bei Nirvana, damals seit einem halben Jahr die größte Band der Welt, gab es keine Ironie mehr. Cobains Songs handelten stets von Krankheit, von Langeweile, Dumpfheit, Schmerz, Agonie. Ein Song heißt „The Money Will Roll Right In“, ein anderer „tourette’s“. Vor „All Apologies“ erzählt Cobain, dass er vor zwölf Tagen erst Vater geworden sei und dass über die Kindsmutter, Courtney Love, viel Schlechtes geredet werde. Da dieses Konzert aufgezeichnet werde, sollen die Zuhörer „We love you, Courtney!“ rufen. Sie tun es ihm zuliebe.
Am Ende demoliert Dave Grohl sein Schlagzeug, Novoselic trommelt weiter, Cobain lässt verzerrt das „Star Spangled Banner“ jaulen. Auf den Stiegen hinter der Bühne bittet ein Vater um einen Geburtstagsgruß für seinen Sohn. Ob der hier sei, fragt Cobain. Dann kommt der vielleicht 13-jährige Bub, in grüner Barbour-Jacke wie der Vater. „My hero“, stammelt er aufgekratzt, noch auf Dave Grohls Trommelstöcke wartend. Cobain, unendlich müde, signiert. „Take care“, murmelt er, den rotwangigen Jungen und seinen Vater zurücklassend.