PJ Harvey  :: Let England Shake

Im April 2010 war Polly Jean Harvey im britischen Frühstücksfernsehen zu sehen, wie sie in einer Art Vogelkostüm, ein zitherähnliches Instrument namens Autoharp anschlagend zu einem Sample der Four-Lads-Nummer „Istanbul (Not Constantinople)“ ein neues Lied vorstellte: „Englands dancing days are over/ Another day, Bobby, for you to come home/ And tell me indifference won“, krähte sie, und der damalige Premierminister Gordon Brown saß im Fernsehstudio auf einem Sessel und war zum Zuhören gezwungen. Drei Wochen später fanden die Wahlen zum britischen Unterhaus statt.

Der Song ist nun das Titelstück des neuen PJ-Harvey-Albums, das Sample ist verschwunden und Gordon Brown auch. Musikalisch und thematisch gibt das Stück schon die Richtung vor für den weiteren Verlauf der Platte. PJ Harvey geht in einer alten Kirche in Dorset – dort wurde „Let England Shake“ aufgenommen – mit ihrem Heimatland ins Gericht, singt von sinnlosen Kriegen in fernen Ländern, von falscher Vaterlandsliebe und nationaler Identität. Die britischen Soldaten sind dabei genauso Opfer der wortmächtigen Politik wie der vermeintliche Gegner.

„Our land is plowed by tanks and feet marching“, heißt es in „A Glorious Land“, dazu erklingt ein englisches Jagdhorn (passenderweise geht ja auch hierzulande der Kriegsminister gerne mal zum Schießen auf den Hochsitz), in „The Words That Maketh Murder“ zitiert sie Eddie Cochran („What if I take my problem to the United Nations“), in „Written On The Forehead“ singt sie über Niney The Observers „Blood & Fire“ von einer arabischen Stadt im Kriegszustand.

Irgendwo zwischen schrägem Folk, ätherischem New Wave und Patti-Smith-Elegien haben sich diese Stücke eingerichtet, die Harvey zur einen Hälfte auf der Autoharp, zur anderen auf ungewöhnlich gestimmten Gitarren schrieb und gemeinsam mit John Parish, Mick Harvey und Flood mit sehr viel Sinn für die Atmosphäre und Raum aufnahm. Man kann hören, wie Stimme und Instrumente von den Kirchenwänden widerhallen, was diesen Songs einen Hauch Ewigkeit verleiht.

Am Ende singen Harvey und John Parish (der hier ein bisschen klingt wie Mark Knopfler) eine Art nachempfundenes Volkslied über die Schlacht um die türkische Halbinsel Gallipoli während des Ersten Weltkriegs. Und so endet das Album dort, wo es mit dem Sample im Fernsehstudio begann: mit dem Kampf um Istanbul.

Diese um einige Geschichtsstunden erweiterten und durch die Echokammer Gotteshaus ins Metaphysische erhobenen Protestsongs, die – ähnlich wie Elvis Costello auf seinem letzten Album – die Historie als Kommentar auf die Gegenwart lesen, spielen natürlich weit entfernt von der Innerlichkeit des letzten Harvey-Soloalbums „White Chalk“ oder den Totenliedern und Folksongs der Kooperation mit John Parish, „A Woman A Man Walked By“. In solchen Fällen sagt man gerne, der Künstler habe sich „neu erfunden“. Doch das ist bei PJ Harvey etwa so ungewöhnlich wie ein Kostümwechsel bei Cindy Sherman. Vielleicht hat sie hier aber sogar den Protestsong neu erfunden. Und wer würde nicht gerne jedes Bild von einem jungen Mann mit einem Gewehr gegen eines von Polly Harvey mit ihrer Gitarre im Anschlag eintauschen? Let England Shake!

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