Rammstein – Sehnsucht :: Motor Music
Motor Music Der Jahrhundert-Flut im deutschen Osten folgen die Jahrhundert-Spendenflut (nach den Care-Paketen) und der Dank an die Jungs von der Bundeswehr. Volker Rühe verspricht: „Die Flut geht, die Bundeswehr bleibt.“ Besser immerhin, als den Ernstfall in Hammelburg zu üben. So kommt die Jugend auf heimischer Scholle wieder zu sich selbst Und auch das Heer der Arbeitslosen hat wieder eine Aufgabe, obwohl die Ruinierten solch improvisierte Hilfe eher dubios finden.
Der Osten versinkt, Rammstein bleiben. Im Gefolge von Sonnenkönig Ullrich schreiben die Musiker aus den Beitrittsgebieten die große Erfolgsgeschichte unserer Tage: Noch ist ihr erstes Album hoch in den Charts plaziert, da dräut schon das zweite, und die Dämme werden brechen, da hilft kein Schlafdeich. Müde simmern die CDs in den Läden, nichts läuft mehr wie früher, die Taschen sind leer – doch Rammstein verkaufen und verkaufen. Wer kauft denn bloß soviel „Herzeleid“, wo sitzen die Schuldigen? Wir hatten in unserer Jugend die Schundhefte, „Bravo“ und die Marvel-Comics, und wenn wir Glück hatten, lag irgendwo unter dem Fernsehtischchen verschämt die „Playboy“-Sammlung eines Automobilisten. Die „Bravo“ ist zuverlässig geblieben, aber der „Playboy“ feiert Geburtstag und wirkt so gespenstisch wie die Jahrestagung der Vertriebenenverbände.
Die, sagen wir: Reizüberflutung ist zu mächtig geworden, und selbst die Philosophen, sonst immer mit Senf & Quark zur Hand, wissen nicht weiter. Alles so beliebig, alles abgegrast! Der amerikanische Sozialphilosoph Richard Rorty überrascht in der Not mit einem schlichten Imperativ: Hallo, alle mal locker werden! Abregen! Und der Vergangenheit gedenken. Die großen Kämpfe, die großen Debatten finden heute an der Wursttheke statt oder, was aufs selbe herauskommt, bei „Talk im Turm“.
Und deshalb sagen auch wir (und nun kommen wir zur Sache): Entspannen! Denn das Skandalon Rammstein, von den Medien eifriger bekniet als vom trägen Publikum, ist doch eher ein ästhetischer Fall als ein ethischer. Anders gesagt: Man mag einiges abstoßend finden von dem, was Rammstein inszenieren – eine Staatsaffäre ist es natürlich nicht. Jugendverderber? Brandstifter? Gewaltmenschen? Mutter mag ruhig sein, wenn „Sehnsucht“ im Kinderzimmer liegt: Dann surft der Filius wenigstens nicht im Internet und ruft auch nicht bei der Talk-Line auf den Seychellen an.
Rammstein sind harmloser als Marilyn Manson, der in den USA schon mal Geld dafür bekommt, daß er in einer Kommune nicht auftritt, weil die Stadtväter ums Seelenheil der Bewohner fürchten. Dabei ist Manson auch bloß Showbiz und nur so bizarr wie die amerikanische Wirklichkeit, in der schießwütige Sektierer und Sekten jederzeit Glaubensfreiheit genießen – solange sie im Hinterwald bleiben.
An Rammstein wird man sich gewöhnen müssen, auch wenn es ganz schwerfallt Das Sextett arbeitet mit einer Musik, die nicht recht von heute ist, aber auch dem Prodigy-Anhänger gefallen könnte. Aus Metal und Techno wird am Mischpult ein Amalgam geschmiedet, das härtestem Druck standhält Dazu kommt hin und wieder, so ein Songtitel, das „Klavier“ oder irgendwas Lyrisches, und der „Fellfrosch“ ist ja auch allerliebst. Gewalt? Herrje, „Bück dich“ ist eine Sadomaso-Schweinerei, die Verona Feldbusch ohne moralische Bedenken in „Peep!“ präsentieren könnte. Die Anspielungen in Till Lindemanns Texten kreisen verläßlich um Sex und Kokain, Mord und Totschlag kommen zwischen den Zeilen vor. Geradezu putzig, wie der Sänger genüßlich Pausen macht, um die Erwartung auf schmutzige Worte zu schüren – und dann ein ganz braves bringt. Doch das verstörend Altertümelnde der Kraftsprache von „Herzeleid“ ist dahin. „Engel“, das Duett mit Bobo, klingt eher wie die Panoptikums-Version von Bocelli & Brightman. Wie erfrischend, zugleich verblüffend und trefflich, waren dagegen die Soundtrack-Beiträge zu „Lost Highway“! Das wirkte in den entscheidenen Szenen (und wer könnte Rosanna Arquette vergessen?) wie eine Hardcore-Fassung von Murnaus „Nosferatu“ auf amerikanisch, und unsere Rammstein treudeutsch mittendrin. Das Dunkel, es lockt.
Aber fragt man Lindemann und Kollegen, was denn da zum Ausbruch komme: So genau weiß man es halt nicht, doch da ist etwas. Spricht Satan durch sie? Sind sie besessen? Was machen sie eigentlich in ihrer Freizeit? Gotische Kirchen angucken? Auf dem Friedhof spazieren? Ritterrüstungen flambieren? Vor allem sind sie unentwegt auf Tournee und bespielen noch das letzte Festival, denn dort, in der Provinz der Sommer-Lustbarkeiten, ist die Basis zu Hause. Rammstein wissen das. Sie sind zwar gemacht, aber hausgemacht. Wie Helmut Kohl kennen sie die kleinen Leute, für die sie auf die Pauke hauen. Sie kommen auch von unten.
So ist „Sehnsucht“ samt Palmenstrand – den schauerlichen Finsterbildnissen entgegengesetzt – eine schöne Metapher für die Flucht aus dem Hier und Jetzt, die Flucht in imaginäre Parallelwelten, wo man das Gesetz selbst setzt und das Recht des Stärkeren gilt. Sehnsucht nach einer Welt, in der das Gefühl das stärkste Argument ist und der Trieb über den Verstand herrscht. Alte Geschichte.
Aber kann man das nicht, ganz altmodisch, Sublimation nennen? Grusel ohne Reue? Führen Rammstein womöglich stellvertretend den Krieg, der dem Schlaf der Vernunft entspringt? Und nennt man das nicht – Kunst?
Wir meinen: auch das.