Scott Walker – Tilt :: Fontana Mercury 526859-l

Scott Walker Fontana Mercury 5268’W-l Scott almighty, he’s back. Die Wiederkunft des Scott Walker 4^ Wiederkunft des Scott Walker ist, wie der Kollaps des Kommunismus, unverhofft und von unübersehbarer Konsequenz. Was den kultisch Verehrten ins Studio getrieben hat nach elf langen Jahren wissen wir nicht, und er wird es uns nicht sagen. Die Hoffnung auf irgendeine Art von Profit kann es nicht sein. Scott Walker gilt als unverkäuflich, spätestens seit „Nite Flights“, der letzten und bahnbrechenden LP der Walker Brothers vor nunmehr 17 Jahren. Sein einziges musikalisches Lebenszeichen seither war „Climate OfHunter“, dicht, dräuend, obsessiv und rätselhaft. Und mit der Hypothek belastet, die schlechtestverkaufte Platte in der Geschichte von Virgin Records zu sein. Nie war der Kontrast zwischen Kult und Markt so extrem, der Abstand so augenfällig. Nie ging die Kanonisierung durch die Kritik kommerziell dermaßen nach hinten los. Während die Dealer jedoch laut hohnlachten, blieb die Walker-Gemeinde unerschütterlich: In Scott wetrust. Eine Dichotomie, an der „Tut“ nichts ändern wird. Denn nichts, aber auch gar nichts hat uns auf dieses Werk vorbereitet. Es be-täubt, bevor es süchtig macht “ Tilt“ ist zunächst Alpdruck, und nur ganz allmählich offenbaren sich sein Geheimnisse. Dann wird der Hörer Stück für Stück hineingesaugt in diesen Mahlstrom aus avantgardistischen Arien und fragmentarischenKlangcollagen, hineingelockt in ein Labyrinth von bedrückenden, verwirrenden, surreal-zerrissenen Poemen. Der tiefe Abgrund, der sich zwischen „Climate Of Hunter“ und seinem Nachfolger auftut, ist wie der zwischen Schubert und Schoenberg oder zwischen Surf Sounds und ,JPet Sounds“: scheinbar unüberbrückbar. Und doch gibt es Brükken, von denen indes keiner weiß, ob sie tragen. Scott only knows. Wie ein Auktionator aus dem Jenseits intoniert Scott Walker die ersten Worte von „Farmer In The City“, dessen Thema, Selbstentfremdung, auf den Schwingen wundersam schwereloser Streicher ans Ohr dringt Was schockiert, ist Walkers Stimme. Sein auratischer, klarer Bernstein-Bariton glänzt durch Abwesenheit. An seine Stelle ist ein beherrschter, leicht gepreßter Tenor getreten, dessen Vibrato wie ein Beben klingt, merkwürdig preziös und nur vordergründig opernhaft. Dazwischen hat Walker Passagen aus „The Man From Reno“ eingeflochten, das er im letzten Jahr für den Film „Tbxic Affair“ geschrieben hatte. Die Strings schwellen an und wieder ab, Scott hält die Fackel, erhebend. Der folgende Track heißt „The Cockfighter“ und fuhrt uns geradewegs in eine Hölle, wo uns der gefallene Engel mit stranguliertet, bis zur Unkenntlichkeit verzerrter Stimme mit Exzerpten aus dem Prozeß gegen Adolf Eichmann vertraut macht. Klaustrophobisches Kratzen wie von eingesperrten Insekten wechselt mit kakophonischem Industrial Noise und metallischen Beats wie von einem Amboß. Assoziationen von Agonie und Todesangst Und das ist erst der Anfang. „Tilt“ ist kein Liederzyklus, kennt weder Nferse noch Refrains. Noch durchgängige Melodien. Die musikalischen Mittel sind oft obskuren Ursprungs, die Instrumentation disparat Auf „Bouncer See Bouncet..“ mischen sich Geräusche von Heuschrecken mit dem dumpf-diffusen Klang einer monotonen Pauke. In „Manhattan“ dröhnt eine furchteinflößende Fegefeuer-Orgel, die nicht nur dem Namen nach verwandt ist mit jener in „Archangel“ von 1966, obgleich der sakrale Ton von damals nicht mit transportiert wurde. Walkers Stimme ändert ihren Charakter nicht nur von Track zu Track, sondern zuweilen mehrmals in einer j Aufnahme. Bald kommt sie proklamatorisch, obgleich der Sinn ihrer Worte verborgen bleibt, bald tonlos und teilnahmslos. In „Face On Breast“ klingt sie verbogen und gequält, untermalt von markerschütterndem Pfeifen und desorientierenden, undefinierbaren Nebenge-räuschen. In „Patriot“ schlüpft er wieder in mehre Rollen. Romantisch verbrämte Momente sind zwar rar, doch nutzt sie Walker dankenswerterweise dazu, uns an die Kraft und Reinheit seines euphorisierenden Organs von damals zu erinnern. Nur zwischendurch allerdings. Dann bekommt sein wandlungsfähiger Gesang Weill’sche Obertöne und „Arturo Ui“ grüßt herüber, ohne daß Walker natürlich auch nur für Augenblicke Lehrstück-Moral zuließe. Im Gegenteil. Auch wenn wie oft von Prozessen, von Gefängnis, Folter und Tod die Rede ist, dann nie in berichtender oder gar kommentierender Absicht Diese Zeit ist lange vorbei In „The Old Man’s Back Again“ auf „Scott 4“ von 1969 hatte er sich noch explizit und militant zu einem so politischen Thema wie dem Prager Frühling und seinen Folgen geäußert Ami „Tilt“ gibt es keine Stellungnahmen. Statt dessen impressionistische Bilder, die aber nicht weniger betroffen machen. Diese auch noch so abstrakten und scheinbar beziehungslosen Impressionen graben sich tief ein ins Gedächtnis, ins Gemüt Mit Widerhaken. Man wird sie nicht wieder los, diese schlaglichtartigen Illuminationen von Despotentum, Opfern, Ohnmacht und Schicksalsergebenheit. Und doch:“ra a bleibt eine Platte mit neun Siegeln. Selbst der zugänglichste, der Title Track wehrt sich noch in den überwältigendsten Momenten melodischer Emphase gegen schnelles Begreifen. Dasselbe gilt für die Musik. „Tilt“ entzieht sich jeder Kategorisierung. Man darf zwar partielle Parallelen hineinphantasieren zu Bartok oder Branca, zu Pendereckis „Dies Irae“ oder seinem Auschwitz-Oratorium, doch sind solche Übungen letztlich sinnlos. „T»ft“wird einen langen Schatten werfen. Man wird dieses Album nicht zu Unrecht mit Kafkas Romanen vergleichen und womöglich gleichstellen. Keine Frage, „Tilt“ ist kafkaesk. Und: „Tilt“ ist ein Monolith. Inkommensurabel. Wolfgang Doebeling

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