Sickster :: von Howard Jacobson

Die Finkler-Frage ****¿

Julian Treslove ist isoliert. Entfremdet von seinem alten Arbeitgeber, der BBC, entfremdet von seinen Exfrauen und von seinen Söhnen. Selbst unter seinen besten Freunden, dem populären Philosophen und ehemaligen Schulkameraden Sam Finkler und ihrem damaligen Lehrer Libor Sevcik, der in späteren Jahren eine Karriere als Filmstarbiograf machte, fühlt er sich ausgeschlossen. Denn die beiden eint ihre jüdische Abstammung (und die Trauer um ihre verstorbenen Ehefrauen). Als Treslove nach einem gemeinsamen Abendessen Opfer eines vermeintlich antisemitischen Raubüberfalls wird, ändert sich sein Leben.

In einer atemberaubenden Kunstfertigkeit gelingt es Howard Jacobson mit der Frage nach der jüdischen Identität zugleich die Probleme, Absurditäten und Obsessionen unserer Gegenwart in hoch komischen, tiefgründigen Szenen einzufangen. Vollkommen zu Recht erhielt er daher für „Die Finkler-Frage“ im vergangenen Jahr den Booker Prize. In seiner Heimat gilt der 68-jährige Autor aus Manchester als britische Antwort auf Philip Roth. Und tatsächlich erinnern viele Motive, die klare gesetzte Sprache, die feine Ironie und der beißende Humor an den großen amerikanischen Autor. Aber man muss schon weit zurückgehen – bis zu „Sabbaths Theater“, um genau zu sein -, um ein Werk von solcher Brillanz und Komik in Roths uvre zu finden. (DVA, 22,99 Euro) Maik Brüggemeyer

von Thomas Melle

In seinem ersten Roman erzählt der 1975 in Bonn geborene Autor und Übersetzer Thomas Melle von einer Welt, die sich durch ein Wirtschaftssystem konstituiert, das sich um ein großes Nichts dreht. Und von einer Sprache, die wie ein Tumor in den Köpfen seiner Protagonisten wuchert, bis sie irr werden. Melle erzählt also vom Hier und Jetzt. Da ist zunächst Magnus, einer dieser von der eigenen Genialität überzeugten Underachiever und Nicht-erwachsen-werden-Könner. Ein manischer Moralist und imaginärer Idealist. In seinen Träumen ein Schriftsteller und Filmregisseur, in Wirklichkeit ein Lohnschreiber im Corporate Publishing eines Mineralölkonzerns. Sein Chef ist das aalglatte alkoholkranke Alphatier Thomas Kühnemund, ein sogenannter Space Manager, der die Einrichtung von Tankstellenshops optimiert und sich nach Dienstschluss ins Berliner Nachtleben stürzt, wo er regelmäßig seine Freundin, die unter Angststörungen leidende Jurastudentin Laura de Hio, betrügt. Melle jagt seine drei Protagonisten in einer mal poetischen, mal uneigentlichen Sprache durch die Nicht-Orte der Gegenwart: Clubs und Callcenter, Kunstausstellungen und Internetblogs, besetzte Häuser und geschlossene Anstalten. Die Welt scheint sich im Leerlauf zu drehen, und nichts ist, wie es scheint. Einfach weil nichts ist, sondern alles nur scheint. Alle sehnen sich nach Wahrheit und Authentizität und stellen am Ende fest: Nicht sie sind verrückt, sondern die Gesellschaft, in der sie leben. Schöne foucaultsche Finte.

Während der Lektüre wünscht man sich ein ums andere Mal, ein Lektor hätte all den Wortmüll, all die Klischees, die mädchentagebuchhaften Momente und die Befindlichkeitsprosa, die sich über diese 332 Seiten ziehen, ein bisschen gestutzt. Doch es sind genau diese auf den ersten Blick misslungenen Passagen, die „Sickster“ zu einem Triumph machen. Ein kaputter Roman über eine kaputte Gegenwart, so nah am Jetzt, dass er wehtun muss. (Rowohlt, 19,95 Euro) Maik Brüggemeyer

Die Leichtfertigen *¿

von Philippe Djian

Für Djian ist Schreiben immer noch eine zutiefst romantische Angelegenheit, deshalb sind seine Helden auch so oft Schriftsteller. Francis heißt der alternde, postpotente „Kultautor“ hier. Seine Lebensliebe und eine der Töchter hat er auf grausame Weise bei einem Autounfall verloren, mit der zweiten Frau lebt er sich gerade auseinander, wohl auch, weil er ihr den sehnlichen Kinderwunsch nicht erfüllen wollte. Und als Schriftsteller versucht er halbwegs mit Anstand über die letzten Runden zu kommen. Dann jedoch nimmt das Unglück wieder einmal seinen Lauf. Die Tochter verschwindet, ist offenbar entführt worden, die zweite Frau verlässt ihn, eine alte Freundin stirbt, und deren psychisch instabiler Sohn ballert vielleicht auch für diese Trivialklamotte ein bisschen zu oft in der Gegend herum. Immerhin, Francis setzt sich wieder vor den Computer für die so entsagungsvolle, undankbare Arbeit an einem neuen Roman.

Man darf die Geschichte nicht genauer nacherzählen, weil sie das Einzige ist, was hier noch halbwegs Interesse weckt. Der Roman ist sprunghaft, unordentlich, fast ein bisschen schlampig gebaut, die Figuren bleiben blutleer. Und für einen Romancier, der sich so viel auf seinen „Stil“ zugutehält, unterlaufen Djian einfach zu viele sprachliche Ungenauigkeiten. Offenbar hat er sich noch nicht wieder freigeschrieben von seinem Soap-Mehrteiler „Doggy Bag“. Oder wer ist hier der ausgebrannte Autor? (Diogenes, 20,90 Euro) Frank Schäfer

I’ll Never Get Out Of This World Alive ***¿

von Steve Earle

Steve Earles erster Roman ist natürlich nach einem Hank-Williams-Song benannt. Und der große Country-Pionier kommt auch selbst vor, als Geist, der immer dann aus dem Jenseits auftaucht, wenn Doc es am wenigsten gebrauchen kann. Doc Ebersole ist die getriebene Hauptfigur des Romans und dem wirklichen Arzt P. H. Cardwell nachempfunden, der Hank Williams mit Morphium versorgte. Handlungsort ist Texas. Die Geschichte setzt 1963 ein, in dem Jahr, in dem John F. Kennedy erschossen wird. Zehn Jahre nach dem mysteriösen Tod von Hank. Doc Ebersole, ein gescheiterter Mann mittleren Alters, der seine Drogensucht durch illegale Abtreibungen finanziert und in einer heruntergekommenen Kneipe auf Patienten wartet, trifft auf ein junges mexikanisches Mädchen, das engelhaft sein Leben verändert, ihn von seiner Sucht befreien, aber letztendlich nicht retten kann. Denn – wie der Titel des Buches schon sagt: Keiner kommt hier lebend raus.

Mit Bravour schildert Steve Earle Docs Drogenleben zwischen Pushern und Prostituierten und profitiert dabei natürlich von seinen eigenen Erfahrungen. Schonungslos zeigt er die Hoffnungslosigkeit, die sich hinter jedem Schuss verbirgt. Und immer wieder klingt der Rhythmus seiner eigenen Songs durch, jene klare Phrasierung der Country-Musik, frei von jeder Trivialität, trunken von dunklen, wahren Sätzen wie ein Song von Hank Williams. (Blessing Verlag, 19,95 Euro) Ulrich Sonnenschein

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