Spearmint – A Week Away :: Deutschland, aufgewacht: das erste Album ron britischen Pop-Meistern

Deutschlands Plattenindustrie als Patient in der Krise: Gerade ruft mich eine Promoterin an und will mir noch einen der vielen überflüssigen Samplers mit Elektrogeräuschen ganz warm ans Herz legen, Kompilationen mit Titeln wie „Drum & Rhythm“, „Dancefloor Tracks“ etc., die nach wenigen Tagen in den Ramschkisten landen, weil die paar interessanten Tracks von der Zielgruppe längst (illegal) zu eigenen Sampler-CDs zusammengebrannt worden sind. Zufallig fallt mir ein, dass bei der englischen Dependance derselben Plattenfirma kürzlich eines der schönsten Alben erschienen ist, die ich im vergangenen Jahr gehört habe, und da kann ich mir doch die Frage nicht verkneifen, wann das Meisterwerk denn nun hierzulande erscheine. Gar nicht, erfahre ich. Man hat wohl die nötigen Gelder nicht mehr im Etat, die es braucht, um eine unbekannte Band „aufzubauen“, weil man selbige Finanzmittel lieber für hypokritische Kampagnen gegen das moderne Pendant zur klassischen Mix-Kassette einsetzt. Merke: Jede „Copy Kills Music“-Aktion schadet dem (»Aufbau“ einer noch nicht etablierten Band.

Ob ausgerechnet Spearmint sich für einen solchen „Aufbau“ eigneten, steht auf einem anderen Blatt. Schließlich nähert sich Sänger und Songwriter Shirley Lee mit Riesenschritten seinem fünften Lebensjahrzehnt (allerdings ohne so auszusehen), schreibt seit Dekaden wunderbare Popsongs und ist mit seiner Band bisher doch nur ein einziges Mal über London hinausgekommen. Nach der Singles-Sammlung „Songs For The Colour Yellow“‚gbt es nun immerhin zum ersten Mal ein richtiges Spearmint-Album, und langsam wird man zumindest in England hellhörig.

Spearmint haben Ruhm und Reichtum vorläufig nicht zu fürchten, und die girlandenschwingende Lebensfreude in Songs wie „Isn’t It Great To Be Alive“ (ein solches Bass-Riff schreibt man nur einmal im Leben!) wirkt auf den Hörer so ansteckend und überzeugend, dass man ihnen ohne Widerstreben abnimmt, wie egal ihnen das ist. Wohlgemerkt: Spearmint sind nicht naiv. Lees Texte flirren nur so von Anspielungen, (Selbst-)Ironie, zynischen Kommentaren und poetischen Kunststücken, und auch musikalisch sind die vier Londoner mit allen Pop-Wassern gewaschen, zitieren, sampeln und emulieren die Beatles und diverse Motown- und R&B-Klassiker ebenso zweckdienlich und wirkungsvoll wie Blondie, Scritti Politti, Orange Juice, Blur und wen noch alles – ohne einen einzigen Moment lang epigonal zu wirken. Im Schatten kolossalen Scheiterns kleine, ausgelassene Triumphe zu feiern, drei oder vierzig Minuten lang so zu tun, als sei alles ganz anders, als sei man die einzige Band auf dem Planeten und die Welt ein bunter Traum – das ist ja die Grundsubstanz großer Popmusik.

Große Popmusik ist nichts ohne Melancholie, und die zieht sich wie ein tiefblauer Fluss durch „A Week Away“, nicht unähnlich jener stolzen Gebrochenheit, die George Harrisons Gitarre diesen nüchternen Momenten der mittleren Beatles verlieh und die Pulp mit „Difleretit Class“ unsterblich gemacht hat Im bewegenden Chorus von „You Carry This With You“ („If we had the choice between all tibe things you left us or having you here with us now, what would we choose?“) und der so hymnischen Uptempo-Ballade „You Are Still My Brother“ kommt Shirley Lee Jarvis Cocker vielleicht am nächsten, aber der souveräne, ökonomische Umgang mit klassischen, seit den 60er Jahren vielfach erprobten Britpop-Elementen und -Instrumenten und modernen Errungenschaften vom Sample bis zur Beatbox weist ihn und seine Band als originale Künstler mit eigener Idee und Vision aus. 4,0

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