Spike Lee : Girl 6

ab 30. Mai Grobkörnige Videobilder mit verzerrten Großaufnahmen von Telefonapparaten, Mündern und Telefonsex-Anzeigen – schon im von Prince überlagerten forspann sind wir mitten drin im Thema. Im Aids-Zeitalter ist für viele die anonyme Lust an der (Hör- und Sprech-) Muschel der einzige Weg zur sexuellen Erfüllung. Spike Lee ist zwar nicht der erste, der im Kino die Bedeutung der Metapher „Telefonsex“ für unsere Zeit erkannt hat, aber sein dramaturgisch fast spielerisch aufgebauter Film „Girl 6“ besticht durch die analytische Schärfe und ernüchternde Ehrlichkeit. Die glamourhafte Oberfläche stellt ironisch die Scheinwelt der Surrogat-Handlung bloß, die schnellen Schnitte und surrealistischen Einschübe der collageartigen Syntax von „Girl 6“ lassen eine (bessere?) Gegenwelt erkennen. Wie unzählige von ihren Kolleginnen träumt auch die zu Beginn des Films noch namenlose farbige Schönheit (Theresa Rändle) von einer Karriere als Filmstar. Bei einem Vbrsprechtermin, auf den sie sich sorgfältig vorbereitet hat, verlangt der arrogante Regisseur namens Quentin Tarantino (himself) nur eines: „Rede nicht, hör zu. Ich will Deine Titten sehen.“ Empört verläßt sie das Studio, worauf sie ihr Manager (John Turturro als langhaariger Kotzbrocken) kurzerhand aus seiner Kartei streicht. Auch ihre Schauspiellehrerin hat genug von ihr: Ihr fehle der persönliche Ausdruck. „Spür den Schmerz, werde endlich erwachsen.“ Nach frustrierenden Jobs als Flugblattverteilerin, Garderobiere in einer Disco oder Film-Statistin, bei denen sie sich nur einen Schnupfen holt, landet sie in einem Trainingskurs für erotische Telefongespräche. Hier werden die Telefonsex-Anwärterinnen von der Agentur-Chefin Lil (lenifer Lewis) mit allen Tricks auf den neuen Job vorbereitet. „Ihr seid alle weiß“, ist Lils wichtigstes Credo. Die noch verschütteten sexuellen Phantasien aus den Anrufern herauszukitzeln, ist die einzige Aufgabe der Telefon-Fräulein. Bald ist Girl 6 der Star der Agentur. In ihrem Kabuff Nr. 6 der von einem Bodyguard gesicherten Hochhausetage kann sie sich mit ihrer sinnlichen Stimme perfekt in die Rollenspiele ihrer Kunden einfühlen. Sie ist die blonde Brigitte, die laszive, brünette Lovely oder die kindlich-süße Miss April. Ihr erster Kunde ist Bob aus dem fernen TeLEINWAND Neu im Kinoxas, der nur einfach „reden“ will: über die Krebserkrankung seiner Mutter. Mal macht sie akustisch die Hausarbeit, mal geht sie mit den Anrufern einkaufen – auf welch merkwürdige Weise sich Männer aufgeilen, bleibt ein Rätsel. „Six is for sex“, meldet sie sich jedesmal – vor Aufträgen kann sie sich kaum noch retten. Sie hat endlich ihre Berufung gefunden, selbstsicher behauptet sie: „Phonesex is acting.“ Daß ihr Privatleben nur noch aus gelegentlichem Smalltalk mit dem Nachbarn Jimmy (Spike Lee) besteht und sich ihr Ex-Mann Joe (Isaiah Washington) beim Wiedersehen als Obstdieb entpuppt, stört sie nicht. Aber allmählich zeigen sich Risse in ihrer Persönlichkeitsstruktur. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Phantasiewelten der Anrufe vom wirklichen Leben zu trennen. Nach einem Nervenzusammenbruch wird sie nach Hause geschickt. Doch Girl 6 kann nicht mehr ohne das Telefon leben, also verdingt sie sich bei der Chefin einer anderen Agentur – gespielt von Madonna. Ihr neuer Arbeitsplatz ist nicht mehr das aseptische, anonyme und geschützte Hochhausbüro, sondern ihre eigene Wohnung. Die Anrufe werden perverser, sind geprägt von latenter Gewalt. Als ein Kunde, der ihre Adresse herausgefunden hat, sie über das Telefon bedroht, flieht sie aus New York. Und in Los Angeles betritt sie am Ende wieder ein Besetzungsbüro. Wer demnächst eine der in den einschlägigen Zeitungen und privaten Fernsehkanälen aufgelisteten Nummern wählt, der denke an Girl 6. Spike Lee bewertet das Geschäft nicht – sein raffiniert konstruierter Film ist gleichzeitig Revue und Traktat, Kunst und Kommerz. Ein Spaß, der unter die Haut geht – und natürlich ins Ohr. Jan-Barra Hentschel

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