The Graphic Canon :: von Russ Kick

von Mahler nach Robert Musil

er amerikanische Publizist Russ Kick wurde durch eine Buchreihe bekannt, die sich „The Disinformation Guide“ nennt. Dort deckte er jede Menge Mythen über Gott, Sex, Medien und Geschichte auf. 2012 legte der moderne Aufklärer als Herausgeber drei voluminöse Bände eines Kanons der Weltliteratur in gezeichneter Form vor – vom „Gilgamesch“-Epos bis zu David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“. Meister ihres Faches wie Will Eisner und Robert Crumb sind auf den insgesamt über 1.500 Seiten vertreten, aber auch viele eher unbekannte Zeichner und Autoren. Mit der Lektüre von „The Graphic Canon“ motzt man also nicht nur seine klassische Bildung auf, sondern verschafft sich zugleich einen Blick auf bisher noch unerforschte Regionen der gegenwärtigen Comiclandschaft.

Der erste Band des chronologisch strukturierten „Graphic Canon“, der Epen, Gedichte, Dramen, Briefe und Romane bis zur Französischen Revolution abdeckt, liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor (Galiani, 49,99 Euro). „Weltliteratur als Graphic Novel“ ist der ziemlich falsche, ziemlich irreführende Titel dieser Ausgabe. Denn kaum etwas lässt sich hier mit gutem Gewissen diesem Genre zurechnen. Gareth Hinds‘ vollständige Adaptionen von „Gullivers Reisen“, des „Beowulf“-Epos und der „Odyssee“ etwa hätten den ersten Band des „Graphic Canon“ alleine schon mehr als gesprengt und sind daher hier nur in kurzen Auszügen vertreten. Andere Beiträge wie Kat Menschiks für die deutsche Edition eigens ergänzte Version des „Nibelungenliedes“ oder Courtney Skinners Interpretation eines Briefs von Benjamin Franklin, sind nicht einmal der Comic-Kunst, der „sequential art“ (Will Eisner) also, zuzurechnen, sondern mehr oder weniger geglückte Illustrationen. Der Untertitel der Originalausgabe, „The world’s great literature as comics and visuals“, trifft es da weit besser.

Auch im Vorwort des Herausgebers lässt die deutsche Fassung den Leser noch einmal allein: Die Idee zu diesem Projekt sei ihm gekommen, als er Chantal Montelliers und David Zane Mairowitz‘ grafische Adaption von „Frank Kafkas Roman ,Das Urteil'“ in einem Buchladen entdeckt habe, erklärt Kick dort offenbar. Natürlich ist „Das Urteil“ kein Roman, sondern eine Erzählung und Montellier/Mairowitz adaptierten – wie im Original richtig vermerkt – Kafkas Roman „Der Prozess“. Und wie!

Diese Schönheitsfehler beeinträchtigen den Genuss der versammelten grafischen Werke natürlich nicht. Allein Robert Crumbs genialische Umsetzung von James Boswells „Londoner Tagebücher“ lohnt die Anschaffung dieses prächtigen Bandes, weitere Highlights sind Hunt Emersons urkomische Fassung von Dantes „Inferno“, Shakespeares „Sonett 18“ in der Interpretation von Robert Berry und Josh Levitas, Ian Pollocks Cartoon der vierten Szene des dritten Aufzugs von „King Lear“, Sanya Glisics erhabene, vom „Tibetanischen Totenbuch“ inspirierte Tableaus und die wie Höhlen (!) malereien anmutenden Zeichnungen zu Platons (!) „Symposium“ der koreanischen Zeichnerin Yeji Yun. Selbst die weniger geglückten, manchmal sogar ein bisschen kitschigen oder relativ einfallslosen Adaptionen, die sich auf diesen 500 großformatigen Seiten naturgemäß auch finden, zeigen zumindest immer den Kampf des Künstlers mit dem antiken Material .Hier versucht sich jemand – wie jeder Leser dieser Texte – ein Bild zu machen von diesen ungeheuerlichen Geschichten.

Keine Frage also, eine deutsche Fassung des „Graphic Canon“ ist äußerst begrüßens-und beklatschenswert. Doch man kann sich bei dieser Ausgabe nicht ganz frei machen vom Gefühl, hier wolle sich einer der wundervollsten deutschen Verlage für Belletristik und andere schöne Bücher an der momentanen Hipness der Graphic Novel laben, ohne allerdings die Möglichkeiten einer solchen Edition voll auszuschöpfen. Wie schön wäre es gewesen, in dieser schon in der zweiten Hälfte des ersten Bandes recht anglozentrischen Sammlung neben Menschicks „Nibelungenlied“-Illus weitere Werke der deutschsprachigen Literatur von hiesigen Zeichner umgesetzt zu sehen: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ von Arne Bellstorf etwa oder Grimmelshausens „Der abenteuerliche Simplicissimus“ von Nicolas Mahler.

Vor allem Letztgenannter hat sich ja in den vergangenen Jahren durch Klassikeradaptionen einen Namen gemacht: „Alice im Wunderland“ setzte er als „Alice in Sussex“ frei nach Lewis Carroll und H. C. Artmann um, Thomas Bernhards „Alte Meister“ ist in der Mahler’schen Fassung mindestens so lustig wie das Original, und der komische Höhepunkt im Schaffen des Wiener Zeichners ist nun seine sehr minimalistische Fassung von Robert Musils Monumentalwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ (Suhrkamp, 18,99 Euro). Wie Mahler mit wenigen Strichen, ein bisschen lindgrüner Farbe und einigen, äußerst kurzen Zitaten aus dem Original die das Werk beherrschende Leere und Absurdität auf den Punkt bringt, ist einfach meisterlich. Ende Januar erscheint schon sein nächstes Werk: eine Interpretation von Thomas Bernhards Theaterstück „Der Weltverbesserer“. Mahler arbeitet an seinem eigenen (ziemlich austrozentrischen) Kanon.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates