Vermessung der Welt

Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski über unsere Liebe zum Datensammeln

Die größte Obsession unserer Zeit ist das sogenannte Data-Mining. Nicht nur Geheimdienste und Unternehmen tun es – auch ein Großteil der Bürger ist besessen vom Datensammeln. Jeden Tag wird die Gesellschaft neu vermessen und nach Algorithmen ausgewertet. Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski beschäftigt sich in seinem Buch „Data Love“(Matthes & Seitz, 14,80 Euro) mit den kulturellen Nebenwirkungen dieser Leidenschaft, die heimlich, still und leise die Welt verändert.

Was genau heißt „Data Love“?

Ich nenne es die euphemistische Alternative zum Leitbegriff der digitalen Informationsgesellschaft: „Big Data“.“Data Love“ bezeichnet die Ambivalenz unseres Verhältnisses zum Big Data Mining: Wir sind ihm verfallen, und wenn es hundertmal gefährlich ist, sich so bedingungslos hinzugeben. Denn „Data Love“ ist nicht nur ein Phänomen der Kontrollgesellschaft, sondern auch der Konsumgesellschaft im Zeitalter ihrer digitalen Verfasstheit. Es geht also nicht nur um die Daten, die der Datenschutz retten will. Die eigentliche Debatte, die zu führen ist: Was macht die Wirtschaft, was macht die Bevölkerung? Denn der gläserne Kunde ist der dickere Zwilling des gläsernen Bürgers. Die Wirtschaft ist naturgemäß mindestens ebenso vom full take (aller Daten aller Bürger) besessen wie der Geheimdienst.

Zurzeit sind Skepsis und Apokalyptik in den Debatten über die Neuen Medien stark en vogue …

Unter den informierteren Beobachtern der Neuen Medien gab es längst einen critical turn. Nach den überzogenen Heilsversprechen der 90er-Jahre haben Vertreter der Digital Media Studies seit dem Web 2.0 vor allem kulturpessimistisch argumentiert: Beklagt wurde die Verarmung der sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft, die nur noch medial miteinander kommuniziert; gewarnt wurde vor dem Nicht-Vergessen des Internets und vor einer Kultur des Multitaskings, die gar kein deep reading und deep thinking mehr trainiert.

Warum gehen wir mit unseren eigenen Daten so schlampig um?

Ich nenne fünf Gründe für die Freigiebigkeit mit persönlichen Daten: Geiz, Ignoranz, Narzissmus, Bequemlichkeit und Leidenschaft. Man gibt persönliche Daten preis, weil man finanzielle Vorteile erhofft, weil man übersieht, dass raffinierte Analyseverfahren mindestens so viel über uns herausfinden wie Psychoanalytiker, oder weil man dem Transparenzgebot verfällt. Zugleich verspricht uns das Internet Serviceleistungen, wenn wir freizügig unsere Daten publik machen: Wer würde auf GPS verzichten, weil er seine Aufenthaltsdaten geheim halten will? Die Self-Tracker sind überzeugt, dass die Verkehrsregelung, die medizinische Forschung und die Gesellschaft insgesamt viel besser funktionieren, wenn möglichst alle Daten von allen über alles zur Analyse bereit stehen.

Wer ist der größte Schurke in dem von Ihnen beschriebenen Spiel?

Die Global-Player sind natürlich leichte Ziele für Kritik. Aber natürlich sind auch die noch unbekannten Start-ups, die voller Enthusiasmus und Unternehmergeist nach Nischen suchen, mit denen sie Millionäre werden können, schuldig. Sie sind nur im Moment noch weniger gefährlich. Doch alle können nur schuldig werden, wenn wir alle es erlauben. Ich denke, die Konfliktlinie geht durch jeden einzelnen Bürger: zwischen dem Interesse an den Vorteilen und der Angst vor den Nachteilen, die in den Analysemöglichkeiten der digitalen Medien liegen.

Wo gibt es Widerstandspotenzial?

Natürlich kann man Kommunikationslöcher schaffen durch Medienabstinenz oder Verschlüsselung. Aber das Problem ist ein anderes, prinzipielles. Denn es ist ja gerade die Daten-Zentralisierung, die viele coole Serviceleistungen erst ermöglicht. Wenn ich will, dass Google, oder wer auch immer, mir in einer fremden Stadt sagt, dass der Buchladen um die Ecke eine Erstausgabe von Kafkas Roman „Das Schloss“ hat oder dass zwei Ecken weiter ein Facebook-Freund in einem Café gerade Huxleys „Brave New World“ liest, dann müssen diese Informationen über mich und meine Freunde natürlich zentral verfügbar sein. Die Frage ist also nicht, wo es Widerstandspotenzial gibt, sondern, wer dieses wirklich nutzen will.

Sie sind eher pessimistisch?

Jeder, der sich in Sachen Datenschutz engagieren will, muss mit der Einsicht beginnen, dass er erstens nicht für die Mehrheit spricht und dass es zweitens nicht reicht, das Briefgeheimnis unter den Bedingungen der digitalen Kommunikation zu retten. Ich bin eher pessimistisch, weil ich glaube, dass Medien ihre eigene Agenda haben, zu deren Durchsetzung sie ihre Nutzer überreden: berechnen, verbinden, regulieren. Dem kann sich die Gesellschaft kaum entziehen, schon weil das Vermessen zum Handlungsimpuls der Moderne gehört. Es ist das Erbe der Auf klärung, das nun in allen gesellschaftlichen Systemen auf eine neue Stufe gehoben wird. Die Maut auf deutschen Straßen wird in nicht zu ferner Zukunft individuell über GPS berechnet werden. Für die Datenschützer ein Albtraum, das Verkehrsministerium aber wird mit der Gerechtigkeit argumentieren. Auch das Gesundheitswesen wird schließlich mit Gerechtigkeit und Vorsorge die lückenlose Datenerfassung rechtfertigen. Und es wird – ökonomisch, pragmatisch, prophylaktisch und irgendwann auch ethisch gesehen – Recht haben. Wir können den Vermessungsmöglichkeiten, die wir uns mit Computern geschaffen haben, nicht entgehen. Genau das meinte Marshall McLuhan, ein Gründer der Medienwissenschaft, als er sagte: „Wir formen unsere Werkzeuge – und dann formen die Werkzeuge uns.“

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