Tindersticks

Second Album

This Way Up /Mercury VÖ: April 1995

Als Arne Willander diese so herbstliche Platte im Frühjahr des Jahres 1995 zugesendet bekam, tat er das einzig richtige: Er wartete, bis es Nacht wurde, schloss sich in seiner Wohnung ein und hörte für Stunden dieses Album. So muss man es machen, wenn man den Zeilen von Stuart A. Staples lauscht. Zeilen, wie diesen: „You’ve been lying in bed for two weeks now/ Wondering how long it’ll take“. Zwei Wochen hat Arne Willander für diese Review nicht gebraucht. Vermuten wir zumindest…

In den alten Zeiten gab es Musik, die den Geist der Gegenwart atmete: Sie enthielt alles, so scheint es wenigstens in der Rückschau, was ihre Entstehung bedingt hatte. „Pet Sounds“, „Sgt. Pepper“, „Highway 61 Revisited“, „Sticky Fingers“, „Astral Weeks“, „Live At Leeds“: Die sentimentalische Schwärmerei von diesen Alben, die kultische Verehrung ihrer Schöpfer mag den Blick auf Fortschritt und Entwicklung verstellen – aber werden die schlamperten Flanellhemdenträger von 1991 dereinst des teen spirit gedenken? Werden die aufgeräumten Jugendlichen von 1994 zum „Zombie“ heulen? Werden Millionen netter Menschen irgendwann in seliger Erinnerung an die „Affentour“ die Faust ballen, den Mund verzerren und resümieren: „Es ging uns gut“?

Die Zersplitterung und Desintegration der Pop-Kultur macht es möglich, daß in den CD-Supermärkten die Kelly Family einträchtig neben Van Halen, den Cranberries, Henry Maske, Mark‘ Oh und dem Kuschelrock, Teil 8, liegt. Soll dieser mißliche Sachverhalt beweint werden? Nein, belacht. Denn nichts scheitert an den Moden und Modalitäten der Zeit, nichts vergeht. Und daß Kunst in derlei ungeistigen Zeiten nicht mehr möglich sei – dieses Lamento aller Kulturkonservativen allerZeiten muß nicht erst falsifiziert werden. Die Frage ist: Was bleibt? Ginge Stuart Staples in ein Plattengeschäft – er müßte die Abteilung „Oldies“ suchen, um Scott Walker und Lee Hazlewood zu finden, bald auch Leonard Cohen und John Cale. Doch Staples braucht keine Hilfe mehr und keine Musik, denn in seinem Gedächtnis ist alles aufbewahrt, was er liebt. Und am meisten liebt er die Liebe.

Sieben Jahre musizierten Staples und sein Partner David Boulter vergeblich in ihrer Heimatstadt Nottingham, bevor sie in die Kapitale flüchteten, mit der Band Asphalt Ribbons scheiterten und als Tindersticks einen Plattenvertrag bekamen. Dann erschien „The First Tindersticks Album“: ein Monument aus der Gefühlshölle, vorgetragen mit der Meisterschaft und der Sicherheit, der gezähmten Leidenschaft von Menschen, die jedes Detail bedacht haben und keine Kompromisse mehr schliessen. Mit dem Habitus eines Dandys und armen Poeten kultivierte Staples, ein sehr schüchterner Mann, das kontinuierliche fin de siecle, den Weltschmerz als Rettung, das Leiden als Lebensart.

Das wäre bei aller Schönheit kaum zu ertragen – besäßen die Tindersticks nicht die vollkommene Bewußtheit darüber, daß auch noch so virtuos und intensiv dargebotene Empfindungen, durch Musik und Lyrik gebrochen, immer schon Manierismen sind. Stuart Staples ist insofern ein Endzeit-Künstler, als er diesen Umstand zum Movens, fast zur Voraussetzung seiner Arbeit macht: Die dunkle Romantik, der sich die Tindersticks-Songs verdanken, kann von Novalis über Oscar Wilde bis zu Thomas Bernhard nachbuchstabiert werden. Notwendig ist das nicht. In der populären Musik aber gibt es keine Beispiele für die Kohärenz und Perfektion des Ensembles.

Die Tindersticks sind auch ein gewaltiger Gegenentwurf zur Rockmusik, gleich welcher Provenienz. Violinen, Piano, Orgeln und Trompeten bestimmen die Instrumentierung; Keyboarder David Boulter, der die phantastischen Kompositionen verantwortet, bezieht sich vor allem auf die Film-Musiken von Ennio Morricone, Lalo Schifrin und Angelo Badalamenti. Staples, der mäßig Gitarre spielt, schreibt sämtliche Texte. Die haben auf dem zweiten Tindersticks-Album wiederum eine undurchdringliche Dichte qua Verknappung: „You’ve been lying in bed for two weeks now/ Wondering how long it’ll take“, brummelt er in „Tiny Tears“ – und benennt damit den idealischen Ort seines Schaffens.

Staples‘ Poesie ist Übertreibungskunst. Wie ein Sterbenskranker nölt, nuschelt und wispert er mit brechender, grabestiefer Stimme herzergreifende Romantizismen: „I had shoes füll of holes when you first took me in“, barmt er in „A Night In“. Ähnlich bemitleidenswert hatte er sich auf dem ersten Album bereits als „Sweet, sweet man/ Can only bring you misery“ vorgestellt. Und gedroht: „And I teil you with the tongue between your toes/ If there’s ever anyone eise, don’t let them do this/ If there’s ever anyone eise/ TU kill them.“ In der Finsternis, schrieb Thomas Bernhard, werde alles deutlich. Auch die Komik.

In die Tragikomödien des Stuart Staples bringt die wunderbare Walkabouts-Sängerin Carla Torgerson weibliche Sachlichkeit: „Travelling Light“, ihr Duett mit Staples, ist das unspektakulärste und lichteste Stück des Albums. Zwei instrumentale Petitessen, „Vertrauen II“ und „Vertrauen III“, dienen als Überleitungen. Das acht Minuten währende Drama „My Sister“ wird von Violinen und Vibraphon, Trompete und Drehorgel in die Nähe des Jazz getragen. Darüber spricht Staples in einer Art von talking blues ein 32jähriges Leben bis zum Ende. Es ist der dritte Song des Albums, und das Herz blutet.

Die Kopfhängerei kulminiert in den letzten Liedern, „Mistakes“ und „Sleepy Song“. Erst steigern sich die Geigen elegisch zur Ekstase der Obsession und Vergeblichkeit: „These days I’m only happy when I cannot move/ These days I’m only happy when I’m tied down next to you.“ Dann verdämmert die Musik – um für Sekunden ein letztes Mal symphonischorgiastisch aufzubrausen. Das klingt, als musizierten die Tindersticks vom Himmel herab. Danach wird es ganz still.

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