Tocotronic – Digital ist besser/Nach der verlorenen Zeit/Tocotronic

Beginn einer Reihe von Wiederveröffentlichungen sämtlicher Alben der Hamburger Band mit Demos, Live- und Alternativ-Versionen, dazu erweiterte Booklets mit Songtexten, Fotos und Liner Notes

In dem Moment, als es stattfand, wussten wir es noch nicht – aber diese drei Jungs hatten die Platte gemacht, die unsere sogenannte Befindlichkeit mit erschreckender Präzision ausdrückte. Man will ja nicht klingen wie „Hamburg 1995, Mann, war das gemütlich“ – aber schön war es doch. „Die Karmers Tapes“ nennen Tocotronic jetzt die Beilage zu „Nach der verlorenen Zeit“. Gemeint ist „Heinz Karmers Tanzcafe“ (eigentlich mit Apostroph: „Karmer’s“!), eine Kaschemme im Stadtteil St. Pauli, in der Jochen Distelmeyer einem Konzert von Tom Liwa zuhörte. Zum Beispiel. Die Toiletten musste man meiden. Die Hamburger Schule war jung, und Tocotronic waren nur die letzte von vielen Bands, deren bloße Existenz und Herkunft aus Hamburg manchem schon bedeutsam vorkam.

„Digital ist besser“ sprach uns auf eine Weise aus der Seele wie sonst nur die Bücher von Thomas Bernhard. Bei Bernhard gibt es keine jungen Menschen, aber Dirk von Lowtzow sang Lieder voller Abscheu, Welt-Ekel und verzweifelter Romantik von Leuten, die erst ungefähr 23 Jahre mit sich gelebt hatten: „Samstag ist Selbstmord“, „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, „Hamburg rockt“, „Ich weiß es nicht“, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, „Wie wir beide nebeneinander auf dem Teppichboden sitzen“. Alles war eine Beleidigung, schuld waren Michael Ende und Gitarrenhändler und die Fahrradfahrer der Stadt Freiburg im Breisgau. Nichts hatte je wieder solchen Schmiss wie die schwergängigen Nörgellieder mit elektrischer Gitarre, Bass und Schlagzeug. Es war die traurigste, stolzeste, sehnsüchtigste Rockmusik der Welt: „Drüben auf dem Hügel möchte ich sein, im letzten Abendsonnenschein.“ Und jetzt gibt es noch viel mehr davon – Single-Versionen, Konzert-Fassungen, Demos. „Nach der verlorenen Zeit“ (1996, 4) wird bis heute als ein Schnellschuss geringgeschätzt. Zu Unrecht, denn „Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss“, das elegische „Gott sei Dank haben wir beide uns gehabt“, das trocken-lakonische „Es ist einfach Rockmusik“ („Ich mag Frumpy“), das depressiv genölte Lamento „Hauptsache ist“ und das zum Greinen anrührende „Ich mag dich einfach nicht mehr so“ sind kaum weniger herrlich als die Songs des Debüts und leiten über zum nächsten Großwerk, „Wir kommen, um uns zu beschweren“. Die schön schundigen „Karmers Tapes“ von 1994 und 1995 sind angefügt. Man hört an einer Stelle, an einen Fotografen gerichtet: „Stefan Malzkorn – im kleinsten Laden den größten Apparat!“ Und leider auch das Geschwätz des Publikums während der Stücke.

Im Jahr 2002 waren Tocotronic eine verwandelte Band. Lowtzow schrieb nun Texte, die man allgemein als „abgedreht“ bezeichnete, jedenfalls sind sie nicht verständlich. Das weiße Album „Tocotronic“ (4) war der Abschied von der flegeligen Rockmusik, die sie bereits auf „K.O.O.K.“ transzendiert hatten. Surrealismus regiert in „Free Hospital“, „Hi Freaks“, „Näher zu dir“, „Dringlichkeit besteht immer“. Der warme, schwebende, mit Keyboards wattierte Klang der Produktion von Tobias Levin provozierte das (tatsächlich nicht zutreffende) Wort vom „Pop-Album“. Sie hatten in der Abstraktion eine Möglichkeit gefunden, älter zu werden. Vorbei die Adidas-Trainingsjacken und Turnschuhe, die sloganhaften Texte, all die Symbolik von Jugend, Dissidenz und Coolness. Hier wurde nur eine Single-Version von „Hi Freaks“ ergänzt, mehr war nicht übrig geblieben.

Tocotronic waren immer die Lieblingsband der Kritik, weil sie die Zeichen von Popkultur und Literatur gleichermaßen verstanden und verrätselten und die Besserwisserei zugleich ironisierten. Formulierten sie am Anfang raffiniert ihr Befinden und ihr Nicht-dazu-Gehören, so gingen sie mit „Tocotronic“ den Weg ins Hermetische , in die frei flottierende Poesie. Unfasslich, dass diese Band in derselben Welt existiert, in der es Die Ärzte, Oomph! und Sportfreunde Stiller gibt. Es ist ein Wissen um Schmerz, Angst und Vergänglichkeit und zwei, drei kleine Dinge des Lebens in diesen Songs, die an den Kern menschlicher Erfahrung rühren.

Tocotronic spielen weiter, weil sie etwas in der Rockmusik sehr Seltenes geschafft haben: Sie haben sich und ihre Musik verändert. Noch jede ihrer Platten gibt eine Ahnung von Schönheit, Skeptizismus und Schwermut, von Genie, Distinktion und Ästhetik – kurzum: von Kunst. Ui, das ist elitäres Denken! Ein wenig Arroganz haben sich die Musiker bewahrt, beim Blick auf minderbemittelte Bands wie Juli und beim Grusel angesichts von Festival- und Stadtfest-Publikum. Dass sie bei solchen Veranstaltungen auftreten, bleibt ein inhärenter Widerspruch. Jede der wunderbaren Platten wird jetzt neu aufgelegt – mit diesen drei Alben beginnt die Reihe.

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