Tocotronic

Pure Vernunft darf niemals siegen

Rätselhalt schöne Songs und hermetische Lyrik der erstaunlichen Band Unsere kleine Band nölte früher stoisch zu lauten Gitarren über Kleinkunst und Gitarrenhändler, das Unglück der Samstage, die Sünden von Michael Ende, den Rotary-Gub und Leute, die am Telefon unhöflich sind. Ihre Idiosynkrasie war zugleich putzig und hanseatisch, ihre Song- und Plattentitel wurden sprichwörtlich: Digital ist besser. Wir kommen, um uns zu beschweren. Es ist egal, aber. K.O.O.K. Das waren schwere Brocken von Platten, beladen mit Thomas Bernhard und Vladimir Nabokov, mit AC/DC und Science-Fiction und Comic-Kunst. Tocotronic trugen Trainingsjacke, Turnschuhe und Seitenscheitel. Es hatte eine Art.

Mit dem letzten, dem Weißen Album von 2002 waren die Dinge komplizierter geworden. Jetzt fuhren die Jungs nicht mehr nach Bahrenfeld im Bus, sie waren nicht mehr wütend und auch nicht mehr lustig. „Hi Freaks“ war ein finaler lässiger Gruß an die Gemeinde, dann ging es in die Verweishölle. Da wunderte sich die Illustrierte „stern“! Das herrlich Droge, das hamburgisch Maulfaule und auch trotzig Gleichgültige hatte sich in steile Texte verwandelt – aber was war das für eine faszinierende Musik! Tobias Levin hatte die schon seit „K.O.O.K.“ verfeinerten Songs zu bizarren, manchmal bombastischen Klängen verarbeitet, halb noch Pop, halb schon etwas Düsteres, Lastendes, Ungehörtes. Vielerlei Weiß.

Nun hängen vier Köpfe im Wald, Rick McPhail – offenkundig kein Hamburger – spielt die zweite Gitarre. Noch immer könnte ich Dirk von Lowtzows ausdruckslosem, überdeutlichem Singsang stundenlang zuhören, ohne etwas zu verstehen: „Ich mag die Engel, kurz vor dem Fall/ Diamanten aus dem All/ AU das mag ich/ Aber hier leben, nein danke.“ Immerhin, wir vernehmen einen Nachhall von Volker Lechtenbrinks großer Etüde „All das mag ich/ Und ganz doll dich“. Rätselhaft schön, so gleichmäßig und gravitätisch pulsieren diese Lieder, die „Der achte Ozean“, „Keine Angst für niemand“, „Cheers For Fears“ und „Tag der Toten“ heißen. Vom All ist viel die Rede. Und von Allem. „Alles in allem/ Und alles für mich/ Ein Widerschallen/ Durch Türen und Hallen/ Hinein in ein Licht/ So steht es geschrieben/ Oder auch nicht.“ Lowtzow ist jetzt also unser Rilke. Oder, wie er das so feierlich singt: unser Distelmeyer! Im Ominösen treffen sich die Titanen der alten Hamburger Schule. Es gibt auch verquere Lobgesänge auf die Liebe, entgegengesetzt den alten Hasstiraden auf Spaziergänger und andere Störenfriede. Lowtzows Lyrik ist prekär, wolkig, surreal. Ferner vom kurrenten Deutschtum-Pop-Gequake (und dabei so deutsch!) kann man nicht sein.

Ein Kratzen auf den Seiten eines Cellos, das klingt, als öffnete sich eine Schatztruhe. Eine irgendwie orientalisch anmutende Violine, der Muezzin ruft vom Minarett herunter: „Agnus Dei/ Qui tollis peccata mundi/ Dona nobis pacem“ – Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, gib uns deinen Frieden. Sechs Minuten dauert diese Ouvertüre zu „Want Two“. Bevor Rufus Wainwright, verkleidet als Geschichtenerzählerin Schahrasad aus „Tausendundeine Nacht“, seine Songs aus Sünden, Intrigen, Narzissmus und Liebe spinnt „The mind has so many pictures/Why can’t I sleep with my eyes open/The mind has so many memories/Can you remember what it looks like when I cry“, heißt es in „The One bu Love“, diesem hymnischen, betörendsten und schönsten aller Wainwright-Songs, der uns in die dunkle Holdseligkeit von „Want Two“ fuhrt. Frauenchöre, Streicher, die barmende Stimme. War „Want One“, der erste Teil der Aufnahmen, die Wainwright vor mehr als einem Jahr als „Want“ betiteltes Doppelalbum veröffentlichen wollte, eine bonbonfarbene Show-Revue (mit einigen dramatischen Untertönen), ist „Want Two“ eine schwarze romantizistische Oper. Und Rufus Wainwright übernimmt gleich alle Rollen selbst: die des Liebenden, des großen Bruders, der Ophelia, des Orpheus (die im Hades zurückbleibende Eurydike istJeffBuckley), der vom Kunstlehrer verschmähten Schülerin im Schatten junger Mädchenblüte, und er gibt Rufus den Täufer, der die Niederkunft des „Gay Messiah“ ankündigt. Er musiziert mit Schwester Martha, Mutter Kate und Tante Anne McGarrigle herzzerreißend den

„Hometown Waltz“, bevor das unheilvolle „This Love Aflair“ anschwillt Am Ende bringt das triumphale, dekadente, neunminütige „Old Whore’s Diet“ mit dem androgynen Lou-Reed-Sidekick Antony als Duettpartner „Ward Two“ am frühen morgen auf dem Dancefloor des Studio 54 zum Stehen.

Klingt alles ein bisschen zu wer the top, kitschig, campish, bombastisch, größenwahnsinnig? Ja. Genau. Rufus Wainwright, dieses unglaubliche, einzigartige, riesige Talent, ist das Einzige, was hilft, gegen den affirmativen „Siehst du das genauso?“-Einföltigkeitsschrammelpop aus dem Jugendradio.

Kurz vor Schluss wurde der größte Schatz des Jahres 2004 gehoben, (universal)

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