Tom Waits :: Orphans
Die Nachricht war zu nächst kaum zu glauben: Tom Waits leert seine Taschen und veröffentlicht 56 neue Aufnahmen auf einmal. 56! Das ist viel, zumal für Tom Waits, dessen Worte auf der Goldwaage liegen, dessen jeweilige Veröffentlichungen die jeweiligen Endresultate klar abgegrenzter Phasen waren. Was zu hören war, passte ins Bild, Inflation war der Feind, so geht das Enigma Tom Waits.
Doch der Mythos weicht auf. Waits singt mit klar verständlichen Worten gegen den Krieg, spricht in Interviews von der Sorge um seine Kinder, spielt für Marc Linkous Klavier und bietet Norah Jones unveröffentlichte Lieder zum Verkauf an. Natürlich wird Waits älter und hat vielleicht nicht mehr so viel Lust am Versteckspiel, sondern senkt die Maske und lässt uns ein Stück weit bei der Arbeit zusehen.
Ich glaube, man muss „Orphans“ auch so verstehen: Waits drängt nicht mehr rastlos nach vorn, um der Tragödie der Existenz immer anders den Schleier des Normalen zu entreißen, sondern will bloß noch den eigenen Acker bestellen, mit tiefen Furchen im Boden und blutigen Händen am Ende des Tages und genug Brot auf dem Teller. „If a record really works at all“, erzählt Waits, „it should be made like a homemade doll with tinsel for hair and seashells for ears stuffed with candy and money.“ „Orphans“ versammelt also auf drei CDs alles, was Waits und Ehefrau Kathleen Brennan im Lauf der letzten drei Jahre zusammenkratzen konnten an vom Tisch gefallenen Brotkrumen, zunächst gescheiterten Selbstversuchen und Liedern, die sonst zu nichts passten. Wie das Zusammentreiben von Hühnern am Strand sei das gewesen, sagt Waits, der seine drei Platten wie eine Kurzwellen-Radioshow verstanden wissen will, wo die Vergangenheit sich komisch mit der Zukunft mischt und alles aus der Ferne kommt, das Stampfen und Greinen, Heulen und Grunzen, Sägen und Sehnen. Man will natürlich wissen: Welches Lied entstammt welcher Phase? Welche Phrase ist alt und jetzt ergänzt worden? Welche Aufnahme ist ganz neu? Und sind die semi-legendären Vokal-Sessions darunter, aus denen Waits zunächst „Real Gone“ machen wollte, bevor er – vielleicht leider – doch die Band dazu holte? Hier und da mag man ein Klangbild oder einen der Charaktere Waits‘ einem bestimmten Album zuordnen zu können glauben, aber sicher ist das nicht. Und die Liner Notes – zumindest die der Presse vorgelegten – geben keinen Hinweis.
Klar ist: Waits und Brennan haben Gelegenheitsaufnahmen und Demos der letzten Jahre (das besagte von Norah Jones aufgenommene „Long Way Home“ ist z.B. dabei) zusammengetragen. Doch das meiste ist offenbar neu aufgenommen und zum Teil sogar neu geschrieben worden, wo Fragmente fehlten oder das Programm unvollständig schien. Aber halten wir an uns und lassen das Fragen sein. Auf „Orphans“ zeigt Waits alles, was er kann und hebt praktisch jede Spielweise traditioneller amerikanischer Musik und Poesie auf seine einzigartige und übrigens nach wie vor unerreichte Metaebene. CD 1, „Brawlers“, versammelt kaputten Rockabilly, zerschundenen Beefheart-Blues, archaische field recordings von der Veranda an Waits’schiefem Holzhaus im Wald zu Santa Rosa, mal vermüllt gestammelt, mal mit der Gestus der halbstarken Fünfziger. Der Höhepunkt ist allerdings ausgerechnet eine wundervoll torkelnde Ballade namens „Bottom Of The World“, die schon seit einiger Zeit als Download zu haben ist.
Von solchen Balladen gibt es auf Album Nr. 2, „Bawlers“ gleich 20, Ausreißer wie den bösen Tango „Litte Drop Auf Poison“ eingerechnet. Einsame Schwärmer und Jammerer vom Ende der Welt sind das, gesungen von Verlierern, Verlassenen, Gescheiterten und also eben jenen skurrilen Sonderlingen, die Waits zur einmaligen Kunstform erhoben hat. Manche Melodie hat es vielleicht auf keine reguläre Platte geschafft, weil sie eine Spur zu durchsichtig ist und nicht ganz so ikonisch wie „Tom Traubert’s Blues“, „Time“ oder „Hold On“. Aber weil Waits eben nicht mehr ganz so viel auf die eigene Hermetik gibt, singt er sich vom Leib, was an wundervollen Melodien zu ihm kommt, und, bei Gott, es sind schöne Lieder darunter.
Mit der dritten Sammlung, „Bastards“ vertieft sich Waits in das eigene theatralische Talent, singt eine großartige Version der Weill/Brecht-Komposition „What Keeps Mankind Alive“, rezitiert Büchner, Kerouac und Bukowski und stellt die Spoken-Word-Performances mit Hilfe der bekannten Mitmusiker (Marc Ribot, Greg Cohen, Larry Taylor etc.) in kunstvoll derangierte Klangkulissen. Dazu kommen eine Reihe von Cover-Versionen und Kollaborationen, die man zum Teil schon von anderswo kennt, darunter „Dog Door“ vom Sparklehorse-Album „It’s A Beautiful Life“, „King Kong“
vom Johnston-Tribut „Late Great Daniel Johnston: Discovered Covered “ und „Books Of Moses“, mit dem Waits 1999 seinen Zeitgenossen Skip Spence ehrte. Vielleicht kann Waits jetzt, wo alles raus ist, besser schlafen. Oder besser arbeiten und doch noch eine neue, ganz andere Furche ziehen in diesem Acker, der schon so viele reiche Früchte trug. Für den Moment jedoch reicht diese Erkenntnisse: Wer solche Reste hat, braucht sich um das Mahl nicht zu sorgen.