Robert Wyatt – „Rock Bottom“

Robert Wyatt, vormals Schlagzeuger von Soft Machine und Matching Mole, sitzt in einem Haus auf einer Insel vor Venedig, beobachtet die Eidechsen an der Wand und schreibt auf einem kleinen Keyboard neue Songs. Er ist mit seiner Freundin Alfreda Benge hier. Sie arbeitet in der Stadt an einem Film: „Don’t Look Now“ (Deutscher Titel: "Wenn die Gondeln Trauer tragen"), dem Meisterwerk des britischen Regisseurs Nicolas Roeg.

Der Restaurator John Baxter, gespielt von Donald Sutherland, sieht sich das Dia eines Kirchenfensters an. Als er darauf eine Figur in einem roten Kapuzenmantel entdeckt, nimmt er das Dia aus dem Projektor, um es mit einem Sichtgerät genauer anzuschauen. Seine Tochter Christine spielt im Garten mit einem Ball. Sie trägt einen roten Regenmantel. Der Ball fällt in den Gartenteich. Sie versucht ihn heraus zu holen. Man sieht, wie das Dia, das John betrachtet, plötzlich zerläuft. John hat eine Ahnung, rennt aus dem Haus, um seine Tochter, die zwischenzeitlich in den Teich gefallen war, vor dem Ertrinken zu retten. Zu spät.

John und seine Frau Laura müssen kurz darauf nach Venedig aufbrechen, da John an der Restauration einer byzantinischen Kapelle arbeitet. Er hat als Restaurator die Aufgabe, die Gegenwart so erscheinen zu lassen, wie die Vergangenheit, doch seine Fähigkeit, in der Gegenwart die Zukunft aufscheinen zu sehen – sein „zweites Gesicht – nimmt er nicht war. Er verliert sich in den Gassen Venedigs, der Stadt der Masken, zwischen Fantasie, Traum, Vorahnungen und Erinnerungen an den Tod der Tochter. Er übersieht alle Zeichen, die ihn auf ein drohendes Unheil hinweisen. Schließlich wird er von einem Zwerg ermordet, der ihn ins venezianische Labyrinth führt . Dieser trägt einen roten Kapuzenmantel.

„We are not prepared.“ Diese Maxime wiederholt der große Nicolas Roeg bei den Dreharbeiten mehrmals am Tag. „Don’t Look Now“ – ein Versuch über das Sehen. „Sieh dich nicht um“, befahlen Pluton und Persephone dem Orpheus und er tat es doch und stürzte Eurydike endgültig ins Verderben. „Kannst du nicht sehen? Ihr seid in Gefahr“, scheint eine blinde Frau John und Laura Baxter hämisch lachend zu fragen. „We are not prepared“, scheinen sie zu antworten.

Zurück in England stürzt Robert Wyatt, einen Tag bevor die Aufnahmen zu seinem neuen Album beginnen sollen, bei einer Party aus einem Fenster im vierten Stock. Er verbringt die nächsten Monate im Krankenhaus, an die Decke starrend, querschnittsgelähmt. Keine Chance mehr, zurück zu kehren – in die Vergangenheit, ans Schlagzeug. Die Gedanken ein Labyrinth aus Erinnerungen, über den Haufen geworfenen Plänen, Zukunftsängsten. He is not prepared.

Doch Robert Wyatt ist kein Restaurator, er gehört zur progressiven Avantgarde. Er kann die Türen in die Zukunft von der Gegenwart aus aufstoßen und hineinschauen. Er tauscht das Schlagzeug gegen das Keyboard, arbeitet an seiner Stimme, schreibt einige der Songs, die er in Venedig begonnen hatte, den neuen Überlegungen nach um, geht ins Studio und nimmt „Rock Bottom“ auf. Eines der schönsten und unheimlichsten Alben überhaupt. Hohe Kunst, kein Art-Rock.

Das Keyboard schimmert wie das Wasser in der venezianischen Bucht. Robert Wyatts brüchige, wunderschöne Stimme erhebt sich. Fische ziehen vorbei. Ein Idyll. Ein Liebeslied. „Joking apart/ When you’re drunk you’re terrific/ When you’re drunk I like you mostly/ Late at night you’re quite alright.” Er modelliert seinen Gesang bis er klingt wie ein mondsüchtiger Miles Davis, der auf einem Nebelhorn spielt. In „Little Red Riding Hood Hit The Road“, laufen die Tonspuren vorwärts, dann rückwärts und wieder vorwärts, wie Ebbe und Flut, wie Wyatts Gedanken, als er an die Decke des „Stoke Mandeville Hospitals“ schaute, wie John Baxters Wahrnehmung im Bewusstseinsirrgarten Venedig.

Robert Wyatt ringt nach Luft: „Burlybunch, the water mole/ Hellyplop and fingerhole“. Kinderreime. Die kleine Christine. Sie lebt. Sie lacht. Ganz so, wie es die blinde Frau schon prophezeit hatte. Am Ende des letzten Stückes, das paranoid zwischen den Stilen hin und her springt, warnt Wyatt mit hoher Stimme unaufhörlich: „Can’t you see them?/ Can’t you see them?“ Ein Zwerg erscheint. Er brabbelt sinnloses Zeug: „I fight with the handle of my little brown broom.” Man hört ihn hämisch lachen. Er trägt einen roten Kapuzenmantel.

Thirsty Ear, 1974

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