Rom sehen und sterben

Sein Himmel hängt nicht voller Geigen, doch hat Morrissey in Rom ein Ambiente gefunden, das einige Dämonen vertrieb, alle Sinne schärfte und seine Phantasie beflügelte. Die eleganten Melodien seines neuen Albums künden ebenso davon wie lustwandelnde Lyrik, kühne Gitarrenformationen, ein Kinderchor und... Geigen.

Rom ist ein bewohntes Museum. Und rappelvoll. Es ist Anfang Januar, feiner Nieselregen macht das Gehen auf dem Kopfsteinpflaster zur Rutschpartie, es herrscht ein Schieben und Drängen. Morrisseys Rat folgend, die Stunden bis zum verschobenen Interview-Termin darauf zu verwenden, die Stadt per pedes zu erkunden, um ein Gefühl für ihr Flair zu entwickeln, stolpere ich durch Gassen und über unzählige kleine Plätze, alle mit Brunnen, Säulen und Statuen von Heiligen. „Now 1 am walking through Rome/ And there is no way to move“, jauchzt Morrissey auf seinem neuen, grandiosen Album „Ringleader Of The Tormentors“, „but the heart feels free.“ Nun denn: When in Rom, do as the Romans do.

Menschenströme wälzen sich die Via Del Corso hinunter, Einheimische wie Touristen. Letztere unschwer daran zu erkennen, daß sie ängstlich nach allen Richtungen spähen, bevor sie die Straße überqueren. In Ermangelung von Ampeln und anderen verkehrsberuhigenden Maßnahmen durchaus verständlich. Während die Ortsansässigen derlei Umsicht für überflüssig erachten und sich zwischen den fahrenden Autos völlig zwanglos bewegen, die eine Hand mit Mobiltelefon am Ohr, mit der anderen wild gestikulierend. Slapstick.

Auf der Piazza Del Popolo haben sich rund hundert Demonstranten versammelt, Anhänger des Fußball-Clubs Lazio, die lautstark Treuebekundungen für ihren Spielführer Paolo di Canio abgeben. Der war für ein paar Spiele gesperrt worden, weil er als erklärter Faschist im Stadion wiederholt seine Kameraden auf den Rängen mit erhobenem Arm und gestreckter Hand gegrüßt hatte. Die Ultras des rivalisierenden Vereins AS Rom, so beteuert der Taxifahrer, der mich zu Mozzers Hotel fährt, seien keinen Deut besser. Im Gegenteil, bei deren Heimspielen würden öfter Hakenkreuzfahnen geschwenkt und schlimmere Parolen rassistischen Inhalts skandiert. „Mister“, schließt er sein Plädoyer für die Lazio-Jugend, „issa not important, football more important.“ Als er wegfährt, springt ein Lazio-Sticker auf der Stoßstange ins Auge, neben einem Jesusbild. „Du achtest zu sehr auf Einzelheiten und Vorkommnisse“, befindet Morrissey, römische Realität sei sicher nicht weniger widersprüchlich als die anderswo, „aber wenn man den Kopf davon freimacht, läßt es sich hier prächtig leben.“ Sofern man sich auf die schönen Seiten von Rom kapriziere.

Das Hotel de Russie liegt nur einen Steinwurf entfernt von All Saints, wo die Anglikanische Gemeinde ihre Andachten abhält. Eine von mehr als 200 Kirchen im Innenstadtbereich, den Vatican nicht mitgerechnet. Ein paar davon kenne er auch von innen, sagt der irisch-katholisch erzogene Steven Patrick Morrissey, der sich sein Leben lang lossagte von Liturgie und Glaubenskitsch, und es sei seltsam und beunruhigend, wie nachhaltig diese religiöse Indoktrination wirke. „Was dir da in jungen Jahren eingebläut wird, wirst du nicht mehr ganz los“, seufzt er, „es holt dich ein, wenn du nicht vorbereitet bist. Ich bin wahrhaftig kein praktizierender Katholik, glaube nicht einmal an das ewige Leben, aber ich weiß, daß ich da nie wieder herauskomme, jedenfalls nicht kraft meines Willens.“ Auch eine Art Gefängnis? „Eines von vielen, in die wir eingewiesen werden, ohne etwas verbrochen zu haben. Es werden ja nicht wenige dort erst zum Verbrecher.“

Die Hotelfassade bröckelt wie augenscheinlich alles in dieser Stadt. Erst das hochmoderne, Marmor-verodelte Interieur verleiht der Eigenwerbung eine gewisse Glaubwürdigkeit: „Rome’s most stylish retreat“. Hier hält Morrissey Hof, ehedem Asket, Dandy und Moralist, inzwischen ersteres nur noch bedingt. Rom habe ihn verändert, wenn nicht auf Dauer, so doch für diese umso kostbareren Monate. Freier fühle er sich als je zuvor, gelöster und, ja doch, heiterer. Ein dünnes Lächeln huscht über sein Gesicht, wenn er derlei Geständnisse macht, als genieße er das ungläubige Staunen seines Gegenübers. Um eilends zu versichern, daß seine Weltsicht unverändert geprägt sei von Abscheu und Überdruß. „I live alife, I feel the pain“, singt er in einem seiner neuen Songs, „I see the world, it makes me puke.“

Der alte, unbeugsame, obsessive Morrissey. Der sich aber neuerdings ein Hintertürchen zum Glück offenhält, voller Selbstzweifel zwar, aber immerhin: „To me you are a work of art/And I would give you my heart/ That’s if I had one.“ Der Tee ist vorzüglich, Morrissev wirkt in Jeans und schwarzem, tailliertem Hemd geradezu aufreizend lässig. Seine Augen indes sprechen eine deutlichere Sprache. Dieser Mann ist nicht defensiv und Distanz wahrend wie noch vor zwei Jahren, sondern erpicht, diese Leichtigkeit des Seins zu erklären, die hier über ihn kam, und die so unglaublich ist wie unheimlich. Er sehe Italien keineswegs durch eine rosarote Brille, er wisse um gesellschaftliche Gebrechen. Mafia, Kirche, Korruption, fieser Fußball, Berlusconis Autokratie, seine Medienmacht und das Mundtotmachen mißliebiger Richter und Staatsanwälte.

„Was mir gefällt, nein, was mich beflügelt, ist die unaufgeregte Selbstverständlichkeit, mit der hier der Alltag bewältigt wird. Die Leute haben ihr Bündel zu tragen, aber sie tun das scheinbar anstrengungslos. Dieses Gewusel in den Straßen wirkt chaotisch, läuft aber ohne Aggressionen ab, jeder geht seinen persönlichen Geschäften nach. Mißstände gibt es überall, und wenn Blair Berlusconis Machtfülle und seine Möglichkeiten der Manipulation besäße, würde er sie genauso schamlos ausnutzen.“

Dieser Konjunktiv mache doch aber den Unterschied ums Ganze, wende ich ein. Mozzer lächelt maliziös. „Was du sagst, wirft einen langen Schatten, den man aber überspringen kann. Das ist mir hier klar geworden. Niemand kann die Last der Welt schultern, ohne zu zerbrechen. Die Römer scheinen das verstanden zu haben, jedenfalls handeln sie so.“ Indem sie ihren Verrichtungen nachgehen? „Auch das. Und indem sie den Zauber eines Moments auskosten. Ich versuche das, es ist schwer, doch es gelingt mir gelegentlich.“ Durch selektive Wahrnehmung? „Ein Luxus, den ich mir zuweilen gönne. Ohne je dem Irrtum zu verfallen, mein inneres Ich besiegen oder auch nur betäuben zu können. Ich mag gelernt haben, mich abzulenken, mich besser zu zerstreuen, doch der Kern ist unauflösbar, fürchte ich.“ Für ein, zwei Sekunden umwölkt sich Morrisseys Stirn, dann entspannen sich seine Züge wieder. Draußen spucken Busse Gladiatoren aus. Schichtwechsel wohl. Ein paar Stunden lang werden sie für Touristen mit Plastikschwertern herumfuchteln, in hautfarbenen Strumpfhosen und Sandalen. Gibt es nur in Rom.

Er nehme den Klamauk nicht wahr, insistiert der Sänger, allenfalls als Kontrastmittel. „Es sind diese extremen Gegensätze, die mich faszinieren. Der Einfluß der Kirche ist gewiß schädlich, beklagenswert, ja manchmal beängstigend. Andererseits scheint sie komplett zu versagen, denn die Leute ignorieren ihre Vorschriften, haben ihren Spaß.“ Ohne Absolution? „Wie auch immer.“ Bei den Aufnahmen zum neuen Album habe er solche Erfahrungen der Ungezwungenheit machen können, die „völlig neu“ für ihn waren. „There is no such thing as normal“, singt ein Chor siebenjähriger Kinder auf „The Youngest Was The Most Loved“, einem der vielen herausragenden Tracks auf „Ringleader“.

Ein Höhepunkt auch für den Künstler. „Weil es nichts zu erklären gab. Sie begriffen ohne viele Worte, sangen mit Hingabe. Ja, ein Ereignis, an dem ich meine perverse Freude hatte.“

Im Songtext mutiert der Jüngste und Meistgeliebte zum Killer. Wie überhaupt der Tod eine tragende Rolle zu spielen scheint in des Mozfathers römischer Lyrik. Nicht als morbide Note oder gar als makabrer Effekt, sondern als Metapher für das Unsausweichliche, Schicksalhafte. Morrissey widerspricht nicht, lehnt es aber wie eh und je ab, interpretative Hilfestellung zu geben. Die Prärogative des Poeten. Nur den Begriff „God“, ebenfalls omnipräsent, möchte er bitteschön nicht bekenntnishaft gewertet wissen. Eigentlich eher umgangsprachlich, als Floskel oder Fluch. „Ich bin sicher, daß auch du bisweilen ,Oh God‘ seufzt oder im Ärger dahinsagst“, spekuliert er, „das macht dich noch nicht zum Gläubigen.“ Ich bestreite das, gebe aber zu, daß mir des öfteren ein herzhaftes „fucking hell“ über die Lippen komme. „Ist dasselbe“, belehrt mich Morrissey, „nur eben die Kehrseite der Medaille.“ Bleibt einem aufrechten Atheisten denn nur „shit!“? „Wenn es dich erleichtert“, antwortet er trocken, „if you excuse the pun“.

Morrisseys Sinn für Humor, zwischenzeitlich arg angeschlagen durch wie er es sieht – die Niedertracht und Heimtücke ehemaliger Kollegen, und deshalb um eine ausgesprochen gehässige Komponente erweitert, hat sich wieder aufgehellt. An die Stelle bösartig-bissiger Tiraden von „Maladjusted“ und die hohntriefenden Attacken von „You Are The Quarry“ ist eine Art lockerer Galgenhumor getreten, nicht ohne Säuregehalt, aber sparsamer portioniert. Die Feindbilder freilich sind dieselben geblieben. Amerika, die alte Wahlheimat. Auf dem fulminanten LP-Opener „I Will See You In Far Off Places“ singt er an die Adresse eines mutmaßlich muslimischen Leidensgenossen: „If your god bestows protection upon you/ And if the USA doesn’t bomb you/ I believe I will see you somewhere safe.“ „Ich weiß“, kichert Morrissey, „das ist nicht originell. But I couldn’t resist it.“

Es sei eben so, fügt er mit Nachdruck hinzu, daß er nichts als Verachtung empfinde für diese US-Regierung. Und im übrigen auch für Blair, schon weil der Bush in den Irak gefolgt sei. So wie Berlusconi? „Stimmt, auch Mitläufertum ist deplorabel. Mir tun die einfachen Leute schrecklich leid, die dort jetzt in ständiger Angst leben müssen und nicht viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben können. Nun droht unser Gespräch aber eine überraschende Wende zum Ernst der Weltlage zu nehmen. Das muß dich ja schockieren.“ Nicht halb so sehr wie das Wort „fun“ aus seinem Munde zu hören, noch dazu positiv besetzt. Oder ihn unzweideutig über Sex singen zu hören, sinnenfroh, ohne Schuldgefühle. „Woher nimmst du diese Schlußfolgerung? Wenn das ein cleverer Versuch sein soll, mir dazu eine Bestätigung zu entlocken oder auch nur ein Dementi, dann muß ich sagen: nicht clever genug. Next question.“

Berührt es ihn beim Flanieren durch das winterliche Rom nicht unangenehm, daß so viele Frauen Pelze tragen? „Doch, es tut mir weh. Ganz schrecklich. Aber sie wissen offenbar nicht, was sie tun, ich sehe nur eine stupide Leere in ihren Gesichtern. Ich liebe es ja, daß sich in Rom das Leben draußen abspielt auf den Straßen. Ich schätze es auch, daß man sich mehr Mühe mit seinem Äußeren gibt als in vielen anderen Städten, die ich kenne. Doch kann ich ein Primat der Mode nicht akzeptieren, wenn das Mitgefühl so auf der Strecke bleibt.“

Herzerwärmend, daß bei allen Lockerungsübungen in Lebensgestaltung, die er in Rom auskostet, Morrisseys ethische Ansprüche an sich selbst keinen Schaden genommen haben. Im UK hatte gerade ein Interview für medialen Aufruhr gesorgt, in dem er Verständnis dafür äußerte, daß Tierschutz-Aktivisten notfalls auch Gewalt anwenden, um ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. „Morrissey supports animal rightsviolence“, schlagzeilte die „Times“ und meldete: „The pop singer and outspoken vegan has been branded irresponsihle for backing violent attacks by extremists against animal research laboratories“ Morrissey holt aus: Es sei traurig, daß ohne Gewalt nichts auszurichten sei gegen die industriell und massenhaft betriebene Folter von Tieren. „Das Gesetz ist auf deren Seite, aber das Gesetz ist schändlich und unmoralisch.“ Die Gewalt ginge von den Versuchslabors aus, was er unterstütze sei Gegenwehr. „Ich bin sicher, daß mir die meisten Menschen zustimmen würden, wenn sie von den unsagbaren Greueln wüßten, die dort unter dem Deckelmäntelchen der Wissenschaft begangen werden. Es ist ein riesiges Geschäft, an jedem noch so sinnlosen Experiment wird glänzend verdient. Das muß endlich aufhören.“

Morrisseys alter, ungebrochener Rigorismus kontrastiert merkwürdig mit der mediterranen Ungezwungenheit, die ihm neuerdings so imponiert. Ein Spannungsverhältnis, das ihn lebendiger mache, so Morrissey, und das sich ganz gewiß auf dem aktuellen Album niedergeschlagen habe. „It occured in this year of italian revelations“, so der Musikus, von denen habe er sich leiten lassen. Und von Tony Visconti „who, of course, is of Italian stock“.

Allerdings stieß der legendäre Produzent erst spät zu den Sessions, brachte Ordnung in einen bis dahin eher tumultarischen Ablauf. „These were joyous recordings“, erinnert sich Morrissey schmunzelnd, doch hätten sie einer festen Hand bedurft. Und klanglicher Optimierung. „Tony ist da sehr anspruchsvoll, brachte eigene Ideen ein. Er ist ein Mann vieler Talente. Ebenso wie Jesse Tobias, ein texanischer Gitarrist, der mir auch half, einigen Songs den letzten Schliff zu geben. Über einen Mangel an Musen kann ich mich nicht beklagen.“ Ein spezifisch italienischer Touch ist der Musik dennoch nicht anzuhören. „Nun, Ennio Morricone hat ein Stück arrangiert“, widerspricht Morrissey. Und das sehr schön, konzediere ich, mit einem richtigen Orchester und nicht mit Synth-Strings wie auf der letzten Platte. Aber identifizierbar italienisch klingt dennoch nichts. „Was wäre das denn für dich“, erkundigt sich Mozzer etwas ungeduldig, „Rita Pavone on backing vocals?“. Wow, er kennt Rita Pavone! Lag die nicht vor seiner Zeit? „Nein, ich weiß noch gut, wie ich ihre Single ,Heart’vgekauft habe, auf RCA Victor, schwarzes Label. Die Rückseite hieß ,The Man Who Made The Music‘.“ Ich zeige mich beeindruckt. Dazu hätte ich auch allen Grund, meint er. „Ach ja, eh ich es vergesse, das Catering im Studio war italienisch. Köstlich. Und der Kinderchor. It was a very happy experience. it’s as simple as that.“ Einfach glücklich. Morrissey korrumpiert von la dolce vita. „Verführt, nicht korrumpiert. Ich bitte, den feinen Unterschied zu beachten.“

„Pasolini is me“, beginnt das zur Single erkorene „You Have Killed Me“.

,“Accattone‘ you’ll be.“ Letztere Zeile bezugnehmend auf Pier Paolo Pasolinis ersten Film von 1961, erstere eine Verbeugung, eine Wiedergeburt, eine Epiphanie? „Nur ein Zeichen meiner Bewunderung. Er war ein Genie. Und er hat sich nie angepaßt, ging unbeirrt seinen Weg, lebte völlig frei. Es machte ihm nichts aus, verachtet zu werden, weil er mit Leuten aus der Gosse verkehrte. Ich habe alle seine Filme gesehen, und sie sind wunderschön.“ Inklusive „Salo“? Morrissey verneint, ,“Salo‘ schön zu nennen, wäre in der Tat obszön. Sehr verstörend.“ War Pasolini nicht ein Getriebener, ein Gepeinigter, einer, der am Marxismus ebenso verzweifelte wie am Katholizismus und nirgendwo Halt fand? „Vielleicht brauchte er keinen. Ich könnte das verstehen. Wir sind hier in einer Stadt, in der jeder zweite Kardinal ist oder werden will, alle Sünder, die jedem Stöckchen hinterherspringen, das die Kirche wirft. Pasolini hat sich nie nach Stöckchen gebückt. Das können nicht viele von sich behaupten.“

Und die Moral? „The world is insane, let’s enjoy ourselues.“ O tempora o mores.

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