Romantik der Gemeinsamkeit

ATÜRLICH BLEIBT BEI Haldern Pop auch im 30. Jahr alles so, wie es in den vergangenen Jahren war. Das Festival am Niederrhein soll weder mehr Zuschauer noch entscheidend mehr Bands bekommen – dieser Versuchung haben die Macher erfolgreich widerstanden. Haldern Pop hat sich ungeplant zu einem Ort entwickelt, zu dem alljährlich im August etwas Besonderes passiert -wenn so etwas gelingt, muss man es pflegen und behutsam damit umgehen.

Das geschieht auch 2013 mit einem Line-up, das zu einem erheblichen Teil aus unbekannten oder, na ja, halb bekannten Künstlern besteht, die das Haldern-Team übers Jahr kennengelernt hat. In der Bar, über Empfehlungen, in Clubs in London oder Berlin, aber auch bei kleinen Branchentreffen in Kanada, Holland oder Weißrussland. Das große Interesse der Macher an ungewöhnlicher Musik und den Künstlern, die sie kreieren, wird von den Gästen nicht nur akzeptiert, sondern adaptiert -das ist ein Kern von Haldern Pop. „Es ist ja immer schwer zu erklären, warum das Festival so ist, wie es ist, aber ich glaube, dass das Fremde eine wichtige Rolle spielt“, überlegt Haldern-Pop-Geschäftsführer Stefan Reichmann. „Das ist einfach ein wichtiger Aspekt: Die

Künstler kommen ja aus ihren Ecken der Welt, aus Nova Scotia oder Neufundland oder aus der Ukraine. Die erzählen dann hier in Haldern ihre Geschichte, und irgendwie kommt da was zusammen. Die Gäste wollen diese Geschichten nämlich hören; sie wollen etwas erfahren, was sie noch nicht wissen. Also, Haldern, das sind die Künstler, die Gäste und der Ort.“

In diesem Jahr unter anderem zu entdecken: der ukrainische Pianist Lubomyr Melnyk, der neuseeländische Psychedelic-Pop-Sonderling Connan Mockasin, die US-amerikanische Dream-Pop-Chanteuse Julia Holter, die deutsche HipHop-Band Käptn Peng &Die Tentakel von Delphi. Zu der Auseinandersetzung mit dem Fremden kommt einiges Vertrautes: Glen Hansard, Kettcar, Regina Spector, Sophie Hunger, Alabama Shakes, dazu solide Popmusik von Tom Odell und -hurra! – James in Urbesetzung, mit denen sich die Festival-Macher selbst ein Geschenk machen. „Für ein stimmiges Festivalkonzept brauchst du einige Künstler, auf die sich alle einigen können“, sagt Reichmann. „Es sind ja auch Leute dabei, für die ist Musik ein Lebensmittel wie eine Tasse Kaffee. Die freuen sich, wenn sie ein gutes Lied im Radio hören, aber sie sind keine Nerds. Bands wie Wir sind Helden oder in diesem Jahr Kettcar schaffen Konsensmomente, die die Leute zusammenführen. Dann ist man auch wieder bereit, sich Nischen-Sachen anzuhören und Überraschungen zu erleben.“

Um musikalische Überraschung geht es auch beim Reeperbahn-Festival. Hamburgs Version des SXSW-Festivals in Austin, Texas präsentiert bis zu 30.000 Besuchern an in diesem Jahr erstmals vier Tagen etwa 300 Konzerte in etwa 50 nah beieinanderliegenden Spielstätten. Auch hier geht es eher um musikalische Neugier als ganz große Stars. „Die Festivalbesucher sind oft von der Qualität des Programms überrascht“, erklärt Festival-Macher Alexander Schulz. „Normalerweise hat man ja eine emotionale Vorbereitung auf ein Konzert, weil man den Namen der Band kennt. Hier herrscht eher Goldgräberstimmung. Die Musikkenner laufen herum, um die besten Bands zu sehen, und tragen gute Konzerte dann wie Trophäen vor sich her -davon lassen sich alle anderen anstecken.“

Trophäenjäger anderer Art sind die Musikbranchenvertreter, von denen in diesem Jahr fast 3.000 das Festival besuchen werden -35 Prozent davon kommen aus dem Ausland. Das Reeperbahn-Festival ist seit 2009 auch ein sogenanntes B2B-Event (,,Business-to-Business“), bei dem Verleger Kontrakte aushandeln, Bands verdealt werden und insgesamt die Branche miteinander ins Gespräch kommt. Bei Showcases, Konferenzen und Panels zu allen erdenklichen Themen des Musikgeschäfts. „Das ist in Zeiten des sich radikal verändernden Marktes ein gutes Konzept“, sagt Schulz, „gerade auch die internationale Branche nimmt das Reeperbahn-Festival als eine sehr wichtige Plattform wahr, um ihre Künstler in Deutschland zu platzieren.“ Eine Einbahnstraße, die Schulz und sein Team in diesem Jahr zumindest ein Stück weit umkehren wollen: Gemeinsam mit der Initiative Musik werden erstmals Showcases ins Programm integriert, bei denen sich deutsche Acts ausländischen Labels und Verlagen präsentieren -zum Beispiel im Rahmen der von MTV-Legende Ray Cokes moderierten „Ray’s Reeperbahn Revue“. Ansonsten im Line-up: größere Namen wie Kate Nash, Built To Spill, Kettcar und Shout Out Louds, eine Grand-Hotel-van-Cleef-Label-Nacht sowie Dutzende Nuggets wie Efterklang, Abby, Me And My Drummer, Tunng, Sea + Air und Anna von Hausswolff. Schulz freut sich auf eine „positiv aufgeregte Stimmung“, wenn sein Publikum von Club zu Club laufen und den Luxus des Musikentdeckens genießen wird. „Natürlich ist ein Festival wie unseres die emotionale Abbildung virtueller Strukturen wie die der Streaming-Dienste -da entscheidet nicht ein Major-Label, sondern die Community selbst, was ihr gefällt. Beim Reeperbahn-Festival ist das ähnlich; die Leute tauschen sich aus und beraten schon vorher bei Facebook, welcher Act vielversprechend ist und wo man hingehen sollte.“

Neben der Berührung mit unbekannter Musik ist das ein anderer Kern der Veranstaltungen in Hamburg und Haldern: das gute Miteinander. In Hamburg funktioniert der Zusammenschluss trotz disparater Schauplätze entlang der Reeperbahn und zahlloser Veranstaltungen; in Haldern liegt alles in schnell erreichbarer, überschaubarer Nähe. „Dieses Konsensbewusstsein, sich mal wieder einig zu sein in einer sehr individualistisch aufgesplitterten Gesellschaft, das ist gut“, sagt Reichmann. „In Haldern entsteht so eine Sehnsucht nach der Einfachheit, nach Respekt und gegenseitigem Verstehen. In besonders guten Momenten, wenn alles ineinandergreift und alle zufrieden sind, dann legt sich so etwas wie ein Schleier über das Festival -und das ist ungeheuer romantisch.“

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