Rückblick 2022: Jerry Lee Lewis – Das Ende des Rock’n’Roll

Ende Oktober starb mit dem unberechenbaren Mann am Klavier der letzte große Vertreter der Generation, die einst die weltbewegendste Musik der Neuzeit schuf. Eine Erinnerung an ein spätes Gipfeltreffen in Berlin

Die aufregendste und weltbewegendste Musik der Neuzeit hatte ihren rebellischen Gestus längst verloren, als Jerry Lee Lewis seinem Ruf als unberechenbarer Tunichtgut des Rock’n’Roll wieder einmal mühelos gerecht wurde. Es war im Sommer 1998 in Berlin, King Elvis war mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren tot und drei seiner überlebenden Rivalen waren auf Tour, zusammen, nicht gemeinsam. Die Atmosphäre zwischen den Legenden toxisch zu nennen wäre untertrieben. Sonderlich geschätzt hatten sie sich ohnehin nie, respektiert allenfalls anfangs, in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit. In Berlin erinnerte daran nur noch wenig, zumal das Konzert kurzfristig mangels Nachfrage von der Wuhlheide in die Columbiahalle verlegt werden musste.

Und so saß Jerry Lee Lewis verdrossen backstage, klagte über Übelkeit und wusste nichts Gutes über den Stand der Tournee zu berichten, während Chuck Berry in Jogginghose und mit Kapitänsmütze sein Repertoire herunterspulte, wie stets begleitet von ortsansässigen Musikern, denen der Star kaum Beachtung schenkte. Auch Little Richards Auftritt bot vornehmlich Routine, gesanglich immerhin gewohnt exaltiert.

Nur ungern trat Lewis vor Berry auf

Es folgte eine so lange Pause, dass die Veranstalter ernsthaft befürchten mussten, der wachsende Unmut des Publikums könnte zu Geld-zurück-Forderungen eskalieren. Jerry Lee Lewis hatte sich soeben für außerstande erklärt, seinen Part zu absolvieren, und sich zurückgezogen, unauffindbar. Fieberhaft wurde hinter den Kulissen verhandelt, die Proteste der Fans wurden lauter, legten sich aber, als Chuck Berry zum Erstaunen aller Anwesenden ein zweites Mal auf die Bühne kam und ungeniert sein Programm wiederholte, die jetzt sichtbar ausgebeulten Hosentaschen mit Bargeld gefüllt.

Die Reihenfolge der Auftritte bei solchen Package-Shows war für Jerry Lee Lewis nicht nebensächlich, nur ungern trat er vor Berry auf. Als es durch Rotation mal wieder zu dieser Sequenz kam, setzte der Killer als Zugabe sein Piano mit Benzin in Brand und zischte im Schein der lodernden Flammen Chuck ins Ohr: „Follow that, boy.“ Ein Vorgeschmack auf jenes Fegefeuer, das den notorischen Sünder sowieso erwarten würde, nicht zuletzt als Quittung für die abscheulichen Porno-Perversionen, derer Chuck Berry überführt worden war.

Auch mit Little Richard verband Lewis keine Freundschaft, zu weit lagen die Lebenswelten der Tastenwüteriche auseinander. Richards eiferndes Missionarsgehabe und das queere Tingeltangel seiner Travestie-Performance empfand Jerry Lee als abstoßend. Wobei er selbst gewiss kein Unschuldslamm war. Die Arglosigkeit, mit der Jerry Lee Lewis im Mai 1958 einem Reporter bei der Ankunft in London seine dreizehnjährige Cousine Myra vorstellte, die er gerade geheiratet hatte, spricht Bände. Jerry Lee war zweiundzwanzig, und es war seine dritte Ehe. Nichts Verwerfliches in Ferriday/ Louisiana. Dass er von seiner zweiten Frau noch nicht geschieden war, sei natürlich ein Versäumnis, doch das werde er schnell nachholen. Was Jerry Lee Lewis nicht besaß, war ein Unrechtsbewusstsein; was er nicht verstand, war die Skandalträchtigkeit seines Verhaltens, dass seine Tournee gecancelt wurde und er medial mit Schimpf und Schande überzogen wurde.

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Dabei hatte seine Karriere gerade einen Raketenstart hingelegt, „Whole Lotta Shakin’ Goin’ On“ und „Great Balls Of Fire“ waren die Charts hochgestürmt. Und sie blieben seine einzigen globalen Rock’ n’Roll-Hits, weil ihn Radiostationen und Konzertveranstalter fallen ließen.

Lewis wechselte ins Country-Fach, sehr erfolgreich bis zuletzt. Am 28. Oktober starb Jerry Lee Lewis im Alter von 87 Jahren in der Nähe von Memphis, an seiner Seite Judith, seine siebte Frau.

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