Rufus Wainwright – Der Held des Jahres

Der Song des Jahres 1998 ist 28 Jahre alt. Er heißt „The Man In Me“, stammt von Bob Dylans Album „New Morning“ und läuft zu Beginn des neuesten Films der Coen-Brüder, „The Big Lebowski“. Es ist ein Lied über männliche Selbstzweifel, das in der Handlung des Films seine Entsprechung findet. „What makes a man?“, fragt der im Rollstuhl sitzende vermeintliche Multi-Millionär Jeffrey Lebowski. „Is it being prepared to do the right thing? Whatever the price? Is it that what makes a man?“ – „That, and a pair of testicles“, antwortet der Dude.

Und genau da liegt das Problem, denn die gute alte Freudsche Kastrationsangst verfolgt den Dude den ganzen Film hindurch. Ein Frettchen trachtet ihm nach der Männlichkeit, und ein Bremer Nihilist mit einer großen Schere verfolgt ihn in seine Träume. Am Ende darf er seine Virilität zwar unter Beweis stellen – aber nur im Dienst einer starken Frau, der wahren Multi-Millionärin und „stark vaginalen“ Künstlerin Maude, die ihn zur Zeugung ihres Kindes – man muss es so sagen: benutzt. Dem besten Kumpel des Dude, dem Vietnam-Veteranen Walter Sobchak, geht es nicht viel besser. Bei seiner Ex-Frau hatte er nichts zu melden, trat für sie sogar zum Judentum über – jetzt darf der militante Zionist nur noch auf ihren Hund aufpassen, während sie mit ihrem neuen Freund Ferien macht. Auch in Todd Solondz‘ „Happiness“ kommt der Testikeltragende Teil der Menschheit nicht so gut weg, wird durch verklemmte Onanisten und depressive Pädophile repräsentiert.

„I may not be so manly, but still I know you love me“, singt derweil ein 25-Jähriger kanadisch-amerikanischer Songwriter aus Montreal auf seinem Debütalbum. Er zitiert Shakespeare und Verdi, singt aus den Trümmern seines zerbrochenen Herzens von seiner Verzückung für die Callas in Bellinis „Norma“, von Franz Schubert und einem Jungen namens Danny, der schuld ist an all dem Schmerz. Es ist die schönste und wahrhaftigste Musik, die sich finden lässt in diesem sonst so lauten und ironischen Jahrzehnt. Und es ist eine neue Form von Männlichkeit, die uns da begegnet – eine, die geschmückt ist mit weiblichen Attributen, ohne jedoch Camp zu sein.

Besondere Aufmerksamkeit bekommt der außergewöhnliche junge Songwriter aber zunächst nicht. Er wird von den Medien nur als ein weiterer Sprössling“berühmter Eltern“ sein Vater ist ein bekannter Songwriter, seine Mutter eine Folksängerin – pflichtschuldigst abgehakt und muss mit dem Beatle-Sohn Sean Lennon auf Tournee gehen. Erst als Rufus Wainwright Ende des Jahres in einer Werbung der Modekette „Gap“ den Tin-Pan-Alley-Song „What Are You Doing On New Year’s Eve“ singt, wird er einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Sein hedonistischer Lebensstil, sein ans Narzisstische grenzende Stilbewusstsein und seine Weltläufigkeit machen ihn zu einem perfekten Vertreter einer neuen Männlichkeit, einem schwulen role model, dem bald auch konsumfreudige heterosexuelle Männer unter dem neuen Label „Metrosexualität“ nacheifern. Prominentester Vertreter dieser neuen Spezies wird später David Beckham sein, der 1998 noch als Sündenbock für das frühe WM-Aus der englischen Nationalmannschaft herhalten muss. Nach seiner roten Karte im Spiel gegen Argentinien legt der britische „Daily Mirror“ eine Dartscheibe mit seinem Gesicht bei. In Deutschland ist die Krise der alten Männlichkeit 1998 noch nicht angekommen. Der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Stellvertreter Joschka Fischer inszenieren sich, nachdem sie den alten Patriarchen Helmut Kohl in die Flucht geschlagen haben, in den nächsten Jahren mit flapsigem Chauvinismus und jungen Gespielinnen.

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