Rufus Wainwright: „Es wird immer einen Teil von mir geben, der Fassbinder sein will.“

Das wilde Leben hat er für die hohe Kunst hinter sich gelassen. Doch so ganz kann Rufus Wainwright sich mit seiner bürgerlichen Existenz noch nicht anfreunden: Nun will er Lady Gaga vom Pop-Thron stoßen.

„Beeeeeauuutiful!“ ist sein erstes Wort an diesem Morgen. Rufus Wainwright hat auch zu früher Stunde schon einen Sinn fürs Schöngeistige, obwohl seine Augen noch recht müde in die Welt schauen. Ist spät geworden am Vorabend in einem schicken Berliner Restaurant. Nun spaziert er auf Clogs durch den noch unter Nebel liegenden Schlossgarten in Berlin-Friedrichsfelde: „Oh, dieses chinesische Vogelhäuschen da vorn hätte ich gerne, wow!“, an einer Baustelle vorbei: „Uäh, das ist typischer Berliner Dreck!“ zum frühklassizistischen Herrenhaus. Das Vestibül sieht allerdings gar nicht herrschaftlich aus: Die Möbel sind wegen Sanierung größtenteils ausgeräumt – wodurch die Wandmalereien selbstverständlich viel besser zur Geltung kommen. Das gefällt dem Künstler. „Beeeauuutiful!“

Eine bessere Kulisse hätten wir für unseren Fototermin kaum finden können. Denn Rufus Wainwright hat seine Musik auf dem neuen Album „All Days Are Nights: Songs For Lulu“ von allen orchestralen Verzierungen befreit. Nur Klavier und Stimme sind übrig geblieben. Und doch versprühen die neuen Lieder – wie dieses leergeräumte Schloss – den Glanz einer prunkvollen, lange vergangenen Ära.

Wenn Rufus Wainwright 100 Jahre früher auf die Welt gekommen wäre, oder auch nur 50, würde man heute Musicals über ihn schreiben und Enthüllungsbücher, sein Leben wäre in Starbesetzung verfilmt worden, und Andy Warhol hätte bestimmt einen Siebdruck angefertigt. Doch der Songwriter begann seine Karriere in den Neunzigern, einem Jahrzehnt ohne Sinn für Glamour und Grandezza. Schreihälse mit Nicht-Frisuren in Holzfällerhemden, Trainingsjacken oder Bollerhosen und ziegenbärtige Pillenschlucker mit Trillerpfeifen durften zehn Jahre lang Augen und Ohren quälen. Die Models wurden immer magerer und auch die Popstarleichen waren nicht schön anzusehen (Schrotflinte!), weil Schönheit einfach keinen Platz hatte am Ende dieses hässlichen Jahrhunderts. Und am Anfang des nächsten warteten wiederum Krieg und Terror.

Wainwright trotzte den Zeiten und führte sein großes unzeitgemäßes Pop-Drama um Genie, Exzess und Größenwahn (mit starkem ödipalen Unterstrom) jenseits des Mainstreams auf. Ein faszinierendes Spiel zwischen Selbstverschwendung und Selbstinszenierung, wie es einst die großen Diven auf den Bühnen der Mailänder Scala oder der Opera National in Paris spielten. Als Wainwright 2006 nach erfolgreichem Drogenentzug Judy Garlands legendäres Comeback-Konzert von 1961 Song für Song in der New Yorker Carnegie Hall aufführte, war er selbst eine gefallene Diva, die sich wieder aufrappelte.

In einem Hollywood-Film hätte die Erzählung hier geendet. Für Wainwright, der stets von der großen Sehnsucht getrieben wurde, seine Herkunft als Spross einer kanadischen Folkmusikerin und eines amerikanischen Songwriters mit seiner ersten großen Liebe, der Oper, zu vereinen, war das allerdings gerade mal der erste Akt. Zu Beginn des zweiten folgte er seiner Liebe ins Alte Europa. In eine Stadt, die für ihn zu einer Chiffre der Selbsterneuerung wurde: Berlin. Dort nahm er sein erfolgreichstes Album „Release The Stars“ auf, und dort lernte er auch seinen Lebensgefährten Jörn Weisbrodt kennen, der damals an der Staatsoper Unter den Linden arbeitete.

In einer alten BBC-Dokumentation über Maria Callas hörte er, wie die aus Brooklyn stammende Diva in perfektem Italienisch die Worte „Prima Donna“ aussprach. Er muss darin seine eigene Sehnsucht, die Alte und die Neue Welt zu vereinen, wiedergefunden haben. Durch diese im New Yorker Sprachfluss so verheißungsvoll fremd und zugleich vertraut klingende Arie aus zwei Worten offenbarte sich ihm sein nächstes Projekt: Er musste eine Oper schreiben. Die New Yorker Metropolitan Opera bot ihm schließlich die Möglichkeit dazu. Im Sommer 2008 beschlossen die künstlerische Leitung und der Komponist allerdings, getrennte Wege zu gehen. Offiziell hieß es, die Met habe das französischsprachige Libretto nicht akzeptiert. Der wahre Grund ist weitaus tragischer. Wainwrights Mutter Kate McGarrigle, zugleich seine wichtigste Vertraute, Zuhörerin und Kritikerin, war an einer seltenen Krebsart erkrankt. Der vom New Yorker Opernhaus in Aussicht gestellte Aufführungstermin für „Prima Donna“ im Jahr 2014 schien für sie unerreichbar. Ihr Sohn schaute sich nach Alternativen um – in Europa.

Als Generalprobe seines Ausflugs ins ernste Fach schrieb er die Musik für Robert Wilsons Revue aus Shakespeare-Sonetten am Berliner Ensemble. Im Juli 2009 feierte „Prima Donna“ in Anwesenheit von Kate McGarrigle im Palace Theatre in Manchester Premiere.

Sie besuchten die Premiere ihrer Oper kostümiert als Giuseppe Verdi, Ihr Freund kam, als Giacomo Puccini. Warum?

Ich liebe die italienische Oper! Und die beiden waren die elegantesten Vertreter. Vor allem Puccini war eine große Modeikone in seiner Zeit, wo eh schon alle so prächtig aussahen – die Spazierstöcke, die Handschuhe, die Hüte. Puccini sah aus wie aus einem Visconti-Film. Jörn ist ein ähnlicher Typ.

Und Sie als großer Romantiker Verdi?

Ihn verehre ich in der Opernwelt am meisten. Er verkörperte immer mein Ideal. Nicht unbedingt musikalisch, aber was seine Entwicklung anbelangt. Diese emotionale Tiefe, die er erreicht hat, ohne es zu überreizen. Ich verehre natürlich auch die Deutschen. Wagner und Strauss zum Beispiel. Aber Verdi ist von einem seltsamen Mysterium umgeben, das mich immer fasziniert hat.

Hätte wohl auch weniger elegant ausgesehen, wenn Sie sich als Wagner verkleidet hätten…

Ja, ich hätte meinen fatsuit anziehen müssen. Und ich hätte mir die Füße abschneiden müssen, weil er so klein war (lacht). Die ganzen Unterschenkel hätte ich mir absägen müssen und dann falsche Füße anziehen…

Wie nah sind Sie Verdis emotionaler Tiefe mit Ihrer Arbeit gekommen?

Eine der interessantesten Erfahrungen der letzten Jahre war, meine eigene Musik als Zuschauer und Zuhörer zu erleben. Das war sehr rührend und intensiv. Ich möchte nicht egomanisch klingen, aber nachdem ich das erste Mal bei den Proben meine eigene Oper gehört habe, lag ich schluchzend auf dem Boden.

Waren Sie so gerührt von ihren eigenen Fähigkeiten?

Ich dachte eher: Oh mein Gott, ich muss wirklich ein ziemlich empfindlicher und deprimierter Typ sein, wenn ich solche Zeilen schreibe. Beim Schreiben dachte ich eigentlich, ich halte mir die Welt auf Distanz. Meine Mutter ist im Krankenhaus, mein Freund ist sauer auf mich, aber darum kann ich mich nicht kümmern, ich muss meine Oper schreiben. Doch das floss alles in diesen Stift, in diese Worte und in diese Klänge. Ich war extrem unglücklich.

„Prima Donna“ erzählt die Geschichte der längst vergessenen Diva Regine Saint Laurent, die ihre letzten sechs Jahre in der Einsamkeit eines Pariser Apartments zugebracht hat. Daraus entwickeln sich die klassischen Themen der Oper – Liebe, Verlust Wahn -, die natürlich zugleich klassische Wainwright-Themen sind. Und es fällt nicht schwer, den Komponisten in seiner Hauptfigur wiederzuerkennen.

Wainwright bekam weitaus mehr Aufmerksamkeit als andere Pop-Künstler, die sich an der E-Musik versuchten. Die Klassikwelt sparte anschließend nicht an Kritik. „Manche Leute haben es geliebt, andere haben es gehasst“, meint Wainwright. „Es gab jedenfalls eine richtige Diskussion. Und das ist für mich das Zeichen eines lebendigen Stücks. Und ehrlich gesagt, wenn alle Welt geschrieben hätte, meine erste Oper sei großartig und unvergleichlich, wäre ich ziemlich deprimiert gewesen. Was hätte ich dann als nächstes tun sollen?“ Er lacht. Doch die Kritik hat ihn tief getroffen.

Wie eine Zurückweisung. Ein Wagnis war es zweifellos, seine Klassikkarriere gleich in der Königsdisziplin Oper zu beginnen. Nicht wenige Kritiker dürften ihre altgriechischen Wörterbücher nach einer Steigerung von „Hybris“ durchsucht haben. Doch es war nicht der Größenwahn, der Wainwright trieb. Jedenfalls nicht nur. Es war vor allem seine unschuldige Liebe zur großen Oper, der er ein Denkmal setzen wollte.

Ein halbes Jahr nach der Premiere starb Kate McGarrigle im Alter von 63 Jahren in Montreal. „Immer wenn mein Leben allzu friedfertig und glatt erscheint, kommt aus dem Weltall ein Befehl, mich wieder umzuhauen“, stöhnt Wainwright.

Ist Ihr neues Album eine Art Trauerarbeit?

Kann man so sagen. Ich habe mich auf den Tod meiner Mutter vorbereitet mit diesen Liedern. Und das Album ist in gewisser Weise mein Herz. Ich habe meinen Kopf in die Opernwelt gestreckt, meinen Fuß in die Theaterwelt, meine Hand in die Popwelt, aber das Herz von allem sind immer die am Klavier entstandenen Songs. Deshalb sind auch drei der Sonette und die große Arie aus „Prima Donna“ auf dem Album – reduziert auf das Skelett meines kreativen Prozesses: Klavier und Stimme. Es gibt nichts Romantischeres als das. In Deutschland weiß man das natürlich.

Die Shakespeare-Vertonungen stehen sicher in der Tradition des Kunstliedes. Aber andere Stücke auf dem Album erinnern doch auch an die Wainwrightsche Tradition, Familienangelegenheiten in Songs zu verhandeln.

Ja, so sind wir (lacht höflich). Wir waren immer ehrlich und offen zueinander … In unseren Liedern jedenfalls (lacht laut). Dazu kommt noch, dass ich aus einer Tradition von Troubadouren komme. Wir können da rausgehen und es alleine schaffen. Amy Winehouse könnte das nicht, oder Lady Gaga. Das heißt, die vermutlich schon, die ist ziemlich gut am Klavier.

Kennen Sie Lady Gaga personlich?

Ja, wir haben mal ein Benefizkonzert zusammen gespielt. Ich ging auf die Bühne und machte einen unglaublichen Job, dann ging sie raus und machte einen sehr guten Job. Am nächsten Tag wurde ich in der Zeitung nicht mal erwähnt, nur: Lady Gaga, Lady Gaga, Lady Gaga. Sie hat wirklich die Popwelt erobert, das bewundere ich. Aber ich finde das alles auch ein bisschen zynisch. Dass sie als Feministin gilt, nur weil sie ihren Freund umbringt… Ich weiß ja nicht. Verstehen Sie das?

Sie kommt einfach zur richtigen Zeit. Alle merken gerade, dass Madonnas Karriere endgültig zuende geht.

Definitiv. Neulich sah ich sie in einer Gameshow im Fernsehen. Da ging es irgendwie ums Heiraten. Sie wird jetzt schon behandelt wie ein TV-Star von vorgestern. Das hat sie verdient. Das Botox beginnt auszulaufen, hehehe.

Sie sind jetzt 36, näher an der Madonna-Generation als an der von Miley Cyrus.

Ich weiß. Ich hab’s bei der Vertonung der Shakespeare-Sonette gemerkt. Ich habe mich mit dem Dichter identifiziert, nicht mit dem Knaben, der da angeschmachtet wird. Es gab Zeiten, in denen hätte ich in diese Teenage-Slippers schlüpfen und das Objekt der Begierde sein können. Aber jetzt sehe ich mich eher in der Rolle des übellaunigen Professors.

Und wie stellt sich der übellaunige Professor seine weitere Popkarriere nun vor?

Ein großes lächerliches Lady-Gaga-Adam-Lambert-silly-Scissor-Sisters-Album werde ich auf jeden Fall noch machen. Solange ich noch recht schlank um die Hüften bin.

Und dann?

Ich bin in diese prächtigen Opern-Avenuen eingebogen, (lacht) Was für ein Satz! Jedenfalls möchte ich diesen Weg gerne weitergehen. Man hat keine Wahl, wenn man eine Oper schreibt, man muss sich emotional ganz auf den Prozess einlassen. Man kann sich nicht zurücklehnen, seine kleinen Ideechen hinkritzeln und dann einen Tee trinken. Aber man kann ein einfaches Leben fuhren. Guck dir Verdi, Puccini oder Strauss an. Ehrenwerte Bürger, die diese entsetzlichen, dramatischen Szenarien schrieben. Man braucht eine gewisse Stabilität in seinem Leben, wenn man solche Stücke schreiben will. Da kannst du nicht nach Hause in deine Dachkammer ohne Strom gehen, wo dein Crack-süchtiger Freund im Bett liegt.

Die wilden Tage sind also definitiv vorbei?

In der Zeit, als ich an dem neuen Album arbeitete, hatte sich in meinem Leben einiges verändert: das Debakel um die Gesundheit meiner Mutter, die Verantwortung, die man trägt, wenn man in einer festen Beziehung lebt, meine erste Oper … Doch immer wieder überkamen mich in dieser Zeit Bilder aus meiner verrückten Vergangenheit. Es wird immer einen Teil von mir geben, der Fassbinder sein will. Aber ich habe die Entscheidung getroffen, zu leben. Und das bereue ich auch nicht. Doch eine kleine Sehnsucht nach dem Nihilistischen, Selbstzerstörerischen wird immer bleiben. Dieses Album handelt davon, dass ich das akzeptiere. Es ist eine Art Tribut an mein früheres Selbst. Daher heißt es auch im Untertitel „Songs For Lulu“ – nach der Lulu aus dem alten Stummfilm „Die Büchse der Pandora“.

Zwei Stunden nach unserer Ankunft schreitet Rufus Wainwright schon durch die Säle und Kammern, als wären es seine eigenen. „Napoleon used to hang out here“, erläutert er dem Fotografen (die Information stammt von einem Herrn der Schlossverwaltung). Und dann zeigt er uns noch die schönsten Stücke der Gemäldesammlung.

Ende Mai schon wird er uns durch weitaus dunklere Gemächer führen. Gekleidet in einen schwarzen mit Strass und Federn verzierten Umhang des Designers Zaldy Goco wird er die Lieder von „All Days Are Nights …“vorstellen. Ganz allein am Klavier. Hinter ihm, auf dem schwarzen Vorhang, läuft dann ein Film des in Berlin lebenden schottischen Künstlers Douglas Gordon.

Wird Ihnen das als Opernkomponist nicht fehlen – auf der Bühne zu stehen, im Mittelpunkt Ihrer eigenen Werke?

Soweit sind wir ja noch nicht. Die nächste Oper werde ich erst in meinen Vierzigern schreiben. Ich finde es einfach aufregend, ein Stück schreiben zu können, das auf 100 verschiedene Weisen reproduziert werden kann. Wenn du eine Oper schreibst, wird die zu deinem eigenen Tier, und dann machst du den Käfig auf, und es ist weg.

Das klingt romantisch. Aber hat die Oper noch etwas mit unserer Zeit zu tun? Oder ist das pure Nostalgie?

Wir sind doch alle unglaublich nostalgisch. Ich glaube nicht an dieses ganze Im-Jetzt-Leben und Super-Innovativ-Sein. Wir werden von unseren romantischen Gefühlen beherrscht und sind sehr weit entfernt davon, all die Fortschritte zu verstehen, die Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen haben. Wir befinden uns noch immer in einem Mahlerschen oder Thomas-Mann-Universum. Und das gilt nur für die gebildeten Leute. Die Massen denken immer noch über Mozart nach.

Sie sind mit Christoph Schlingensief befreundet, oder?

Der ist natürlich innovativ und avantgardistisch. Aber sein Werk hat unglaubliche Schönheit und eine große emotionale Qualität, die jeder nachvollziehen kann. Ich habe seinen „Parsifal“ in Bayreuth gesehen. Das ist immer noch meine liebste Inszenierung. Sie hat jede Menge Unsicherheiten und Vorurteile und Kraftfelder einfach weggeblasen und ging direkt ins Herz des Stoffes. Und das ist es, was große Kunst tun sollte.

Der Fotograf, die Leute von Mode und Make-up packen ihre Sachen. Es ist Zeit aufzubrechen. Nur der neue Schlossherr bleibt noch eine Weile. Er muss im Garten nach den chinesischen Vogelhäuschen sehen.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates