Saat der Gewalt

IESER FRAU BEGEGNET man besser nicht im Dunkeln. Zwar wirkt Mae, deren Nachnamen wir nie erfahren, auf Männer attraktiv und auf Frauen vertrauenerweckend. Doch nachts schleicht sich die 50-jährige Blackjack-Dealerin hinaus in die Wüste von Nevada und macht mit einem Scharfschützengewehr Jagd auf Kojoten. Als am 11. September in New York die Türme einstürzen, „frohlockt ihr Herz“, und wenn niemand zusieht, fügt sie sich mit einem Messer heimlich Schnitte zu. Wer ist diese Frau?

„Mae, c’est moi“, bekennt sich der 55-jährige Madison Smartt-Bell im Gespräch mit dem ROLLING STONE nur halb ironisch zur Anti-Heldin seines Thrillers „Die Farbe der Nacht“ (Liebeskind, 18,90 Euro). „Eines Nachts kam sie über mich. Ich war wahrhaftig besessen von ihrem Geist. Den Roman zu schreiben war fast wie ein Diktat.“

Das Diktat dürfte einigermaßen heftig ausgefallen sein, denn Mae hat ein furchtbares Geheimnis. Sie war – so die kühne Konstruktion -an den Morden der Manson-Family beteiligt, konnte aber, nicht zuletzt dank der selbstlosen Unterstützung eines Country-Barden, mit ihrer Freundin Laurel fliehen. Obwohl der im Roman nur mit dem Kürzel O. genannt wird, ist er unschwer als Gram Parsons zu identifizieren, der als Antipode zu Manson die Utopien des Hippietums verkörpert. Bell hat ihn kurzerhand in die Manson-Kommune eingeschleust, wo er als unermüdlicher Orpheus verzweifelt versucht, die vom Sektenführer mesmerisierten Mädchen mit seinen Balladen in die Welt zurückzulocken.

„Ich weiß, dass Parsons selbst nie bei Manson abhing“, erklärt Bell. „Aber sein Produzent, Terry Melcher, war einige Zeit in die Sekte involviert und bekam mächtig Ärger, weil er es ablehnte, Mansons Platte zu produzieren.“

Tatsächlich kann man sich für Bells kurze Geschichte über die Verblendung keinen besseren Orpheus vorstellen als den „Grievous Angel“, den traurigen Country-Engel, der 1973 mit 26 den Popstar-Tod starb.

„Ohne ihn gäbe es Emmylou Harris nicht“, ergänzt Bell, „und allein das ist doch nicht schlecht für einen, der so jung gestorben ist.“

Im Roman indes hat der Barde weniger Glück: Seine Freundin geht am Heroin zugrunde, und auch seine beiden Musen Mae und Laurel kann er mit seiner Musik nicht mehr erreichen. Während Manson sie zum Morden ausschickt, sitzt er in einem abgedunkelten Motelzimmer und versucht vergeblich mit der Gitarre seine Dämonen zu bannen.

Auch hinter der Fassade des Princeton-Absolventen Bell tobten bereits früh die Dämonen. „Ich war schon oft besessen; das fing in der Jugend an“, erzählt Bell, dessen kantig-markantes, von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht selbst Bände spricht. „Manchmal ist es wie eine Trance, manchmal habe ich das Gefühl, meinen Körper zu verlassen.“ Irgendwann lernte er die Dämonen mit Musik und Schreiben zu zähmen.

Mit seinem Sandkastenfreund Wyn Cooper bildet er das Singer/Songwriter-Duo Bell &Cooper. Irgendwann nahmen die beiden das Projekt, das als Wohnzimmer-Vergnügen begonnen hatte, ernst. Inzwischen haben sie zwei CDs veröffentlicht: das Debüt „Forty Words Of Fear“, auf dem von fern Tom Waits und Robyn Hitchcock grüßen, und das von R. E. M.-Produzent Don Dixon betreute „Postcards From Out Of The Blue“, das mit einem Repertoire aufwartet, das fast die gesamte Bandbreite der Südstaatenmusik abdeckt. Wann immer es ihre Zeit zulässt, touren sie durch die Clubs und Honky Tonks südlich der Mason-Dixon-Linie. Seine wahre Berufung aber fand er in der Literatur.

Seit 1983 hat Bell 13 Romane veröffentlicht. Schon Anfang der Achtziger pries William Gibson Bells frühe Romane über ein apokalyptisches New York als Vorläufer und Inspirationsquelle seiner eigenen Cyberpunk-Romane. Bells um die Jahrtausendwende erschienene Trilogie über die haitianische Revolution war sogar für den National Book Award nominiert. Dennoch blieb der ganz große Durchbruch aus. Vielleicht weil Bell sich in keine Schublade stecken ließ, weil er sich in griechischer Mythologie genauso gut auskennt wie in den Schnapsbrennereien der Appalachen, Joan Didion ebenso schätzt wie beispielsweise Raymond Chandler.

Wohl deshalb ist „Die Farbe der Nacht“, dessen spröde, knappe Sätze eine eigentümliche, fast hypnotische Wirkung entfalten, ein ziemlich einzigartiger Roman. Noir-Elemente, Popkultur und antike Tragödien gehen eine schräge Ménage-à-trois ein, die unablässig um das Schreckgespenst des terroristischen Akts kreist.

„Terror und Gewalt haben eine zwiespältige Wirkung auf die Amerikaner“, sagt Bell. „Einerseits sind wir abgestoßen und traumatisiert, andererseits berauschen wir uns doch immer wieder daran. 9/11 war ein Höhepunkt, aber im Grunde kann heute jeder Soziopath ein Waffenarsenal anlegen und mit Hilfe der Medien zum Terroristen der Woche aufsteigen.“

Angefangen hat das, so Bell, mit Charles Manson: damals, 1969, als der „Sommer der Liebe“ in unfassbare Gewalt umschlug. „Was heute kaum mehr einer wahrhaben will: Charlie Manson war vielleicht verrückt, aber er hatte sehr wohl ein politisches Programm. Er wollte die USA genauso vernichten und auslöschen wie heute die Typen von al-Qaida. Und ich erinnere mich gut, dass der Terror der Tate-LaBianca-Morde Amerika damals genauso unerwartet getroffen und geschockt hat wie 9/11 vor zwölf Jahren. Beides ist unauslöschlich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Wir haben uns nie wieder davon erholt.“ Wie auch Mae und

Laurel, die 30 Jahre lang nichts mehr voneinander gehört, und das Geschehene an den entgegengesetzten Polen des Kontinents auf unterschiedliche Art verdrängt haben. Bis Mae in den Bildern von 9/11 ihre alte Gefährtin wiedererkennt und sich in den Kopf setzt, sie aufzusuchen. Die Dämonen von damals erwachen zu neuem Leben, und bald jagen die in Hass und Liebe verbundenen Frauen wie zwei hochgiftige Hornissen aufeinander zu. Und kein „Grievous Angel“ weit und breit, die Kollision zu verhindern.

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