Sean Penn spielt die Rolle seines Lebens, „Dead Man Walking“ ist der Film des Jahres – Tim Robbins heißt der Regisseur

Der Regisseur und die Nonne: Wie ein Pfarrer schreitet Tim Robbins im Interconti das Spalier der Fotografen und Kameraleute auf der Pressekonferenz der Berlinale ’96 ab. Seine Hände hat er weihevoll vor seinem dunkelblauen Jackett gefaltet, über der Knollnase und den Pausbacken glänzen wässrig große, von dicken Falten umgebene Augen. Vor ihm strebt die korpulente Schwester Helen Prejean forsch zum Podium. Sie redet mit Herzenseifer und würde in dieser Form wohl auch der Inquisition widerstehen. Robbins lächelt milde.

Er lächelt auch, als ein greiser Kritiker mit zittriger Stimme zu einer konfusen Lobrede anhebt, nach Minuten aber doch irgendwie wissen will, „ob die Kamera alles so gnadenlos zeigen“ dürfe. Und Robbins lächelt noch, als er antwortet: „Es ist die Aufgabe eines Filmes, die Wahrheit zu zeigen. Das ist mein einziges Interesse. Wer mit der Wahrheit nicht fertig wird, sollte sich den Film nicht ansehen.“

„Dead Man Walking“ (Filmstart: 11. April), Robbins‘ zweite Regie-Arbeit, ist die wahre Geschichte der Nonne Helen Prejean, die einen zum Tode verurteilten Mörder durch seine letzten Tage vor der Exekution begleitet. Ihre Begegnung begann, als Helen den Brief von Matthew Poncelet beantwortet, der um seelischen Beistand bat. Ihre Geste war Routine, die Erfüllung eines moralischen Passus im Räderwerk zur Todesstrafe, deren Vollzug der Film bereits im Titel vorwegnimmt: „Dead Man Walking“ erschallt als ritualisierte Ruf der Henker, wenn ein Todeskandidat seinen letzten Gang antritt.

Für Schwester Helen, Sozialarbeiterin in den Schwarzen-Slums von New Orleans, wurden die Tage dazwischen zu einem steinigen Weg, auf dem sie – jenseits des Glaubens irritiert an ihren Gefühlen wächst.

Susan Sarandon, Robbins´ Lebensgefährtin seit der Baseball-Komödie „Annies Männer“, spielt Helen wie eine Madonna, die fast ohnmächtig, jedoch ohne Furcht den Tatsachen ins Auge blickt – die alle eine unwiderlegbare eigene Wahrheit haben. Sie wankt zwischen Empörung und Ergriffenheit, Mitleid und Mißtrauen, und beweist doch unerschütterliches Stehvermögen in der Selbstlosigkeit, mit der sie für jede Seite empfänglich ist, mit der sie begreifen will. „Susan sollte das Auge des Publikums sein“, sagt Robbins. Seitdem habe er noch mehr Respekt vor ihrer Schauspielkunst.

Mit Respekt zeichnet er alle Charaktere – von den haßerfüllten und verbitterten Eltern der Opfer bis zu den Wärtern im Todestrakt, deren rüder Ton das eigene Unbehagen verdrängen solL Robbins begann seine Dreharbeiten in einem Gefängnis von Louisiana, wo unerwartet in der Nacht zuvor ein Mann hingerichtet worden war. Ein Beamter, der dabei war, gestand Robbins, er fühle sich, als wäre er gefoltert worden.

Mit Drehgenehmigungen gab es keine Probleme. „Ich glaube, die Leute haben das Bedürfnis, sich reinzuwaschen“, meint Robbins. Hollywood jedoch scheue sich, das mit dem Waffenbesitz traditionell im Selbstverständnis der US-Bürger verwurzelte Recht auf Rache als Chronik eines angekündigten Todes zu thematisieren, also das Strafbedürfnis zu überprüfen. Daß Hollywood ihn nun für einen Oscar vorgeschlagen hat, ist kein Respekt für seine Regie, eher ein Rechenexempel, das mit „Ein Schweinchen namens Babe“ auf der anderen Seite aufgeht.

Daß Robbins kein Plädoyer gegen, sondern ein Protokoll über die Todesstrafe gedreht hat, wird in den Staaten hitzig diskutiert. Die Schuld des Angeklagten zweifelt der Film nie an, obwohl Matthew Poncelet (Sean Penn) seine Unschuld stets beteuert. Er ist white trash, ein Widerling mit Spitzbart und Hakenkreuz auf dem Arm. „Wir sind die Elite, da wir sterben müssen“, sagt er mit zynischer Lässigkeit.

Es war Robbins‘ Absicht, „das Publikum fühlen zu lassen, was es fühlen will“. Aber es ist Perms Virtuosität, wie er mit unmerklicher Mimik die tragischen Widersprüche seiner Figur vor dem Klischee bewahrt.

Dann setzt die Prozedur zum Tode ein: Die Gäste essen Sandwiches, Matthew wird auf einemTisch festgezurrt und wie am Kreuz aufgerichtet. Eine Injektionsmaschine pumpt durch vier Schläuche das Gift in die Venen. Nüchtern zeigt die Kamera die Mechanik des staatlich verordneten Mordens als „einen Teil der Tragödie“, so Robbins. „Hier ist ein weiterer Toter.“ Als einzigen Effekt erlaubt er sich qualvolle Rückblenden von der Vergewaltigung und Ermordung des Pärchen. Jedesmal werden die Bilder schärfer, bis Wahrheit und Täter deutlich zu sehen sind.

Und Oliver Stone sitzt derweil im Berliner Hotel-Foyer und liest Helen Prejeans Buch „Dead Man Walking“.

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