Sentimentaler Grippe-Infekt

Mal bitte so richtig schön die Rotze hochziehen, wie ein chinesischer Taxifahrer, befahl mein um griffige Metaphern nie verlegener Arzt und steckte mir ein Wattestäbchen in den Rachen, als die bestellte Rotze hinterwärts nach unten suppte – ein Abstrich fürs Labor. Eigentlich hatte ich mich gegen die saisonale Grippe impfen lassen wollen, doch verwehrte er mir die Impfung, denn ich war offenbar bereits grippal infiziert, und mein Immunsystem hatte schon alle Truppen aktiviert, die Impfung hätte einen riskanten Zweifrontenkrieg ausgelöst. Also legte ich mich zu Hause in die Daunen und gab mich der Infantilisierung hin, die Bettlägerigkeit automatisch nach sich zieht. Bücher lesen, die man schon kennt; Fernsehserien anschauen, die man mitsprechen kann; essen, was einem als Kind geschmeckt hat. Die letzte Folge der dritten Staffel von „How I Met Your Mother“ setzte dann eine famose Sentimentalitätskettenreaktion in Gang:

Zunächst freute ich mich zum etwa zehnten Mal darüber, wie Barney die Springsteen-Konzertkarten zerreißt, die Ted für sich und Robin gekauft hatte, und als Robin, die Kanadierin, davon erfährt, ärgert sie sich, schließlich mag sie Springsteen, denn „er ist der amerikanische Bryan Adams„. Immer wieder schön. Wirklich sentimental aber wurde ich dann durch das Lied, das unter Teds Taxiunfall und die folgende Alarmierung und Zusammentrommlung der Freunde an seinem Krankenhausbett gelegt ist: „Nice Dream“ von Radiohead. Ich skippte ein paar Mal zurück, sah mir immer wieder das musikalisch so perfekt untermalte Drama an, und angreifbar, wie man kränkelnd nun mal ist, dauerte es nicht lang, bis mir Tränen übers Gesicht liefen. Scheinbar grundlose Melancholie, Tränen also der angenehmsten Sorte, und wenn die Grundfesten mal wackeln, muss man ja in der Richtung weitermachen, alles rausweinen, wenn sich die Gelegenheit schon mal ergibt.

Ich wankte zum Plattenregal und sondierte den Radio-head-Bestand, absolut sicher, dass ich sämtliche Alben dieser Band besitze, selbstverständlich. Doch die sattsam bekannte und leider zutreffende Binse „Drei Umzüge entsprechen einem Wohnungsbrand mit Totalschaden“ bewahrheitete sich einmal mehr: Ausgerechnet Radioheads Meisterwerk „The Bends“ war unauffindbar. Da lebt man fröhlich vor sich hin, gefestigt unter anderem durch die Gewissheit, die entscheidenden Platten selbsterlebter Jahrzehnte immer griffbereit um sich zu haben – und dann so was! In welcher Stadt, in welchem Land, in welchem Jahr mag der Verlust stattgefunden haben? Kein Fall für die Hausratsversicherung, aber umso mehr Gelegenheit für eine intensive Selbstbefragung: Diebstahl? Unachtsamkeit? Besoffene Verschenkung? Wer hat meine „The Bends“? Auch wenn ein nachgekauftes Exemplar nie die Platte sein wird, mit der ich doch manches verbinde, aber Walter Benjamin hat ja schon recht, um die Gebrauchsspuren-Aura ist es schade, doch der Inhalt dieses Kunstwerks ist beliebig häufig neu kaufbar. Trotzdem schade.

Am ersten nicht mehr im Bett verbrachten Tag eilte ich also, noch leicht schackerig auf den Beinen, zum Kulturkaufhaus. „The Bends“ gibt es mittlerweile natürlich als „Special Edition“, die Bonus-CD enthält einige Dreingaben, die ein Fan wie ich selbstverständlich längst besitzt, meine EPs von Radiohead haben alle Stürme gut überstanden, seltsam, dass die Lücke ausgerechnet bei den Alben mir erst jetzt aufgefallen ist. Natürlich hört man sie nicht häufig, oder wann bitte haben Sie, liebe Leser, zuletzt „OK Computer“ von vorn bis hinten durchgehört? Wäre mal wieder Zeit, hm? Jedenfalls, dafür ist doch eine Plattensammlung gedacht, der Zeitpunkt wird kommen, der Anlass kann kurios sein, aber es wird der Moment kommen, da muss man auf der Stelle irgendeine legendäre alte Platte hören, und wenn die dann nicht an ihrem Platz ist, kann es zu unguten Bilanzierungsgedanken das eigene Leben betreffend kommen. Schätze gehören gehütet, Punktaus.

Auf dem Weg zur Kasse lud ich noch drei für mich unentbehrliche Neuerscheinungen in den Einkaufskorb, „Ultimate Pet Shop Boys“, Mark Ronsons „Record Collection“ und die Jubiläumsedition von „Falco 3“. Ein „Best Of“ von den Pet Shop Boys könnte für meinen Geschmack wirklich jedes Jahr herauskommen, ich kauf sie alle, auf diesem gibt es neben den unsterblichen Klassikern ein neues Lied, „Together“ heißt es, und ich brauche es nur noch ein paar Mal zu hören, dann finde ich es bestimmt richtig gut; ist kein Abräumer, aber dass die zwei sich gesagt haben, wir schon wieder, wir immer noch, unser neues Lied heißt „Together“ – das finde ich schon wieder so unschlagbar cool und lustig, und dass der Song selbst nicht so ganz zu Potte kommt, entspricht genau meinem Humorverständnis, sie sind einfach die Besten. Mark Ronson indessen gilt es, neu zu bewerten, ich hatte ihn bislang – fälschlich wohl – als smart, mir aber insgesamt wurscht abgeheftet, doch sein neues Lied „Bang Bang Bang“ liebe ich sehr, und tatsächlich ist die ganze Platte hervorragend.

Und Falco? Naja, Falco. Auf der beigefügten DVD wienert er herrliches Zeugs, „Man trifft sich einsam an der Spitze“ oder „I muss ganz einfach schoaarf sein“, und die Hurts haben „Jeanny“ gecovert. Das klingt spektakulärer, als es im Ergebnis ist, aber die Idee ist prima. Zu Hause, bei der korrekten Regalarchivierung dieser Jubiläumsedition neben dem Original, kam ich allerdings ins Grübeln, warum um Himmels Willen ich vier, sehr unterschiedlich gut erhaltene Exemplare von „Falco 3“ besitze.

Zeit, mal wieder umzuziehen.

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