Siebziger-Mainstream-Rock: Die besten AOR-Platten der 1970er

Niemals wurden mehr Alben verkauft als in den 70er-Jahren. Die Rockbands der zweiten Generation verwandelten sich in Unternehmen und bewegliche Staaten, ihre allgegenwärtige, von den Radiosendern gespielte Musik nannte man „AOR“: Adult-orientated Rock. Rock für Erwachsene. Und, durchaus abschätzig, wie die einschlägige Gruppe: Middle of the Road, „MOR“.

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Manche sagten Schlock, manche sagten Soft Rock. John Lennon sagte: Es gibt keinen Soft Rock. Aber alle hörten ihn – jedenfalls im Radio. Fünf Autoren haben jeweils vier der millionenfach verkauften und selten gewürdigten Monster-Alben aus der goldenen Ära des Arena-Rock ausgewählt – auch eine Rehabilitation.

Freiheit, elektrisch

von Birgit Fuß

Albert Hammond: „The Free Electric Band“

Es klingt wie ein traum, und die schwelgerische Melodie dazu hat 1972 viele aufs Glatteis geführt: „It Never Rains In Southern California“, sang der schwarzgelockte Träumer, und sofort saß man im Sehnsuchtszug an die Westküste. Fast hätte man die letzte Zeile im Chorus überhört: „It pours, man, it pours.“ Diese Pointe fasst die Karriere des Albert Hammond ganz gut zusammen. Der Amerikaner, 1944 in Gibraltar geboren, hat etliche Welthits geschrieben, aber das wissen erstaunlich wenige Menschen. Starships „Nothing’s Gonna Stop Us Now“, Whitney Houstons „One Moment In Time“, „Don’t Turn Around“ für Tina Turner, am bekanntesten wohl in der Version von Ace Of Base: alles Hammond-Kompositionen.

Sein Debüt, „It Never Rains In Southern California“, enthielt neben dem Hit auch noch „The Air That I Breathe“, beide mit Mike Hazlewood geschrieben, den Hammond dann auch fürs zweite Album verpflichtete. Das Arrangieren und Produzieren übernahm er bei „The Free Electric Band“ (1973) selbst. Vor wuchtiger Instru­mentierung und hier und da etwas Kitsch hatte Hammond nie Angst, es drängte ihn schon ins Radio, und er wusste, dass sich seine unwiderstehlichen Schmeicheleien dafür eignen. Im Kern sind es dennoch Folksongs, die von verschiedenen Varianten der Liebe erzählen, gern in Naturmetaphern oder mit kleinen Alltagsbeobachtungen. In „The Peacemaker“ bittet er nur um ein bisschen Ruhe: Schließ die Tür, aber schlag sie nicht zu. Am Ende ist ihm die Versöhnung wichtiger als das Rechthaben. Er feiert die „Woman Of The World“, er will in „Everything I Want To Do“ nur mit seiner Frau zusammen sein, hat bei „Who’s For Lunch Today?“ sogar noch für die egoistischsten Menschen Verständnis. Und so friedlich sind die meisten seiner Stücke – im Notfall kann man ja immer noch abhauen und die Freiheit ­genießen: „I Think I’ll Go That Way“.

Im allerbesten unter den vielen guten Songs wagt er die Rebellion: „The Free Electric Band“ feiert den Ausbruch aus den engen Familienverhältnissen, sie meinen es gut mit ihm, doch der missratene Sohn kann ihren Wünschen leider nicht entsprechen: „They used to sit and speculate upon their son’s career/ A lawyer or a doctor or a civil engineer/ Just give me bread and water, put a guitar in my hand/ ’Cos all I need is music and The Free Electric Band.“ Mit welcher Kraft und Unbedingtheit er die Musik feiert und die Lebenslust: Da geht einem auch beim 300. Hören das Herz auf.

Barclay James Harvest: „Gone To Earth“

Das achte Studioalbum der Briten wurde 1977 veröffentlicht, aber noch zehn Jahre später lief – zumindest in der bayrischen Provinz – bei jeder Schülerparty irgendwann, wenn alle zu viel Bier getrunken hatten und AC/DC oder Queen nicht mehr auszuhalten waren, „Hymn“ von Barclay James Harvest. John Lees hatte es als Trauerstück für all die drogentoten Kollegen (Jimi, Janis) geschrieben, aber geschätzte 95 Prozent dachten doch, dass es irgendwas mit Gott zu tun hat.

Waren BJH mehr als die „Poor Man’s Moody Blues“, wie Lees sie ein paar Songs später selbst ironisch nannte? Jedenfalls sangen sie so sanft von Geistern und Aussätzigen, von Seelen und sieben Seen, dass selbst die Härtesten bei „Don’t try to fly, you know, you might not come down …“ weich wurden. Zum Dank war das Album 197 Wochen in den deutschen Charts.

Boston: „Boston“

Auch hier bleibt vor allem ein Song: „More Than A Feeling“ stellt alles aus, was Boston je nach Geschmack so mitreißend oder so nervtötend macht. Tom Scholz gibt alles an Keyboard und Gitarre und praktisch jedem anderen Instrument, Brad Delp schwelgt dazu in höchsten Tönen. So klassisch klang Classic Rock gar nicht oft – Scholz hatte seine Jugend mit Beethoven und Mozart verbracht und am MIT studiert, das Studio ist sein natürlicher Lebensraum.

Alles auf diesem Debüt ist perfekt balanciert, ausformuliert und blank poliert – und dann erlauben sie sich in „Rock & Roll Band“ einfach einen Quatsch-­Refrain wie „Love and music, play, play, play, ­yeah, yeah, yeah.“ Damals war „Boston“ das best­verkaufte Debütalbum einer Band in den USA, erst elf Jahre später, 1987, wurde es von Guns N’Roses mit
„Appetite For Destruction“ überholt.

Heart: „Little Queen“

Es bleibt eine Gemeinheit, dass Ann und Nancy Wilson – zumindest in Deutschland – niemals so viel Anerkennung bekamen, wie sie verdient hätten. Die US-Schwestern hatten mit dem Debüt ihrer Band Heart, „Dreamboat Annie“, schon vielversprechend begonnen, aber erst 1977 auf ihrem zweiten Album, „Little Queen“, die Formel gefunden, mit der sie mindestens bis 1990 immer wieder fantastische Hardrocksongs raushauten: zwei starke Stimmen, schneidende Gitarren, bisschen zartes Plingpling zwischendurch, aber insgesamt wenig Kompromisse, vor allem nicht beim Chorus, immer auf die Zwölf.

Möglich, dass das manchem Zuhörer Angst gemacht hat. Wenn Ann Wilson im Hit „Barracuda“ fragt: „You’d have me down, down, down on my knees/ Wouldn’t you, Barracuda?“, glaubt man jedenfalls keine Sekunde, dass das jemals gelingen könnte.

Stratosphären-Pop

von Maik Brüggemeyer

ELO: „Discovery“

Auf dem namenlosen Debüt des aus der psychedelischen Popband The Move hervorgegangenen Electric Light Orchestra von 1971 war Roy Wood zwar der Großkünstler, doch sein Songwriterkollege Jeff ­Lynne war eindeutig das Pop-Genie. Und nach Woods baldigem Ausstieg drehte er das überkandidelte Konzept der Band – die Vermählung von Klassik-Elementen und Popmusik – vom Kopf auf die Füße und landete mit seinen von klassischem Rock’n’Roll, Boogie Woogie, Roy Orbison und den Beatles inspirierten Songs weit oben in den Charts. Das Doppelalbum „Out Of The Blue“ mit der Single „Mr. Blue Sky“ schoss die Band schließlich 1977 in neue Sphären, doch sein wahres Meisterstück ist der Disco-­inspirierte Nachfolger, „Discovery“ (der Titel ein Wortspiel mit der Musik der Zeit: Disco, very).

Wie während der Aufnahmen zu den beiden Vorgängern in den von Giorgio Moroder gegründeten Münchner Musicland-­Studios bekam Lynne nicht viel mit vom so legendären Nachtleben der Stadt, das etwa die Rolling Stones und später Freddie Mercury so ausgiebig und exzessiv zelebrierten. Der so gar nicht dionysische Kontrollfreak, Pop-Nerd und Perfektionist gönnte sich nur ab und zu eine Maß im Augustiner-Biergarten und werkelte ansonsten allein oder mit dem Keyboarder Richard Tandy, dem Schlagzeuger Bev Bevan und dem Bassisten Kelly Groucutt im Studio bis spät in die Nacht an den vielen, vielen Spuren mit Synthesizern, Streichern und teilweise Vocoder-verfremdeten Stimmen, aus denen sich seine Tracks zusammensetzten.

Auf dem fertigen Album folgt Hit auf Hit: Das auf Disco-­Beat und 40 Streichern reitende „Shine A Little Love“ macht den Anfang, es folgten der irre Synth-Pop „Confusion“; das beatleske, von Orson Welles’ „Citizen Kane“ inspirierte „The Diary Of Horace Wimp“ ist nicht fern, und am Ende steht natürlich das mächtige „Don’t Bring Me Down“ (mit dem deutschen „Gruß“ im Refrain), das Lynne erst im Studio schrieb, weil er noch einen Hit wollte (es wurde dann sogar sein größter).

Noch besser sind allerdings der schönste nicht von ­George Harrison komponierte George-Harrison-Song, „Need Her Love“, das Orbison’sche „Midnight Blue“ und natürlich das groovende und schwelgende „Last Train To London“: „I really should have gone, but love went on and on …“ Auch heute noch ein Album zum Verlieben.

10cc: „The Original Soundtrack“

Sie nannten sich nach der durchschnittlichen Menge männlichen Samens bei einer Ejakulation, und manche behaupten, ihre Alben klängen wie die Masturbationsfantasien von vier ein wenig perversen Pop-Nerds. Zwei von ihnen, Eric Stewart und Graham Gouldman, waren Klassizisten (Gouldman schrieb „Bus Stop“ für die Hollies und „No Milk Today“ für Herman’s Hermits), die anderen beiden, Kevin Godley und Lol Creme, verquere Eigentümler.

Zusammen machten sie die größte Schlaumeiermusik der Siebziger. Ihr drittes Album, „The Original Soundtrack“, brachte ihnen auch in den USA den Durchbruch. Die Mini-Oper „Une Nuit A Paris …“ dürfte Queen zu „Bohemian Rhapsody“ inspiriert haben, „I’m Not In Love“, eine Schnulze ohne Liebe, wurde zum Hit, wie auch der Song, der das Konzept von 10cc auf den Punkt bringt: „Life Is A Minestrone“.

The Doobie Brothers: „Minute By Minute“

In der ersten Hälfte der Siebziger waren die kali­fornischen Doobie Brothers so eine Art weich ­gespülte Little Feat – eine wunderbar süffige hippieske Boogie-­Band. Nach dem Ausstieg von Sänger und Songwriter Tommy Johnston entwickelten sie sich zu einer unverschämt einschmeichelnden und eleganten Pop-Soul-Band. „Minute By Minute“ von 1978 ist die künstlerische und kommerzielle Sternstunde dieser zweiten Phase.

Johnston-Ersatz Michael McDonald schmachtet und gibt an den Tasten den Groove vor, Ex-Steely-Dan-Gitarrist Jeff „Skunk“ Baxter hat das Nachsehen und steigt wenig später aus. Den unwiderstehlichen Hit „What A Fool Believes“, der die Doobie Brothers an die Spitze der amerikanischen Charts katapultierte und ihnen einen Grammy einbrachte, schrieb McDonald mit Kenny Loggins.

Rupert Holmes: „Partners In Crime“

Bevor Rupert Holmes den einen Song schrieb, den wir alle kennen, komponierte er für das One-Hit-Wonder The Buoys ein Lied über das nicht charts-­verdächtige Thema Kannibalismus mit dem Titel „­Timothy“ und Songs für die Partridge Family, ­Gene Pitney, Dolly Parton. Auf seinem Debüt, „Wide­screen“ (1974), hört man seine Liebe zu Harry Nilsson und Brian Wilson (plus ein bisschen Billy Joel und zwei Kappen Weichspüler).

„Partners In Crime“ von 1979 brachte den Durchbruch: dank „­Escape (The Piña Colada Song)“, dieses Hitmonsters über den frustrierten Ehemann, den eine Privat­annonce zur Flucht aus dem Alltagstrott animiert – um dann festzustellen, dass diese von seiner Frau aufgegeben wurde. Und das ist nicht die einzige Perle. ­Holmes ist ein überaus origineller Songwriter, der die romantischen Popsong-Topoi geschickt variiert.

Himmelsstürme

von Jörn Schlüter

Journey: „Infinity“

Bevor Journey mit dem album „Infinity“ von 1978 ihren Spurt zum Weltruhm begannen, steckte die Band in einer Krise. Die ersten paar Alben hatten nicht genügend Zuhörer erreicht, weil die Band aus der amerikanischen Bay Area sehr wohl ihre Instrumente bravourös beherrschte – Gitarrist Neil Schon und Keyboarder und Sänger Gregg Rolie hatten bei Santana gespielt, Trommler Aynsley Dunbar bei Frank Zappa –, aber bisher keine Hits geschrieben hatte. Die Wende kam mit Steve Perry, einem Wundersänger mit einer sonderbaren Mischung aus Brust- und Kopfstimme, die ihn zu honigweichen Melodiebögen in großen Höhen befähigte. Das schafften sonst nur Sängerinnen.

Mit „Infinity“ prägten Journey einen eingängigen Pop-Rock, der zwar die Harmonien der Westküste in seiner DNA trug, den Folk aber hinter sich gelassen hatte. Dass man diese Musik bald Arena-­Rock und Middle Of The Road, kurz: MOR, nannte und damit auch einen gewissen Sound meinte, ist heute ein bisschen amüsant, weil die Produktion von „Infinity“ im Rückblick hausgemacht und gar nicht aufgeblasen oder glattgebügelt wirkt. Der Produzent Roy Thomas Baker hatte schon mehrere Queen-­Alben produziert und sollte bald darauf mit Foreigner ins Studio gehen – sein etwas bolleriger, ein bisschen an John Bonham orientierter Schlagzeugsound ist auch auf „­Infinity“ das Fundament.

Dass hier eine Band etwas unsicher neue Wege geht, kann man hören – manches wirkt zurückhaltend gespielt, mancher Song hat ein Fragezeichen. Erst auf der dem Album folgenden Tournee entfalteten Journey ihre unbändige Energie und ihr großes Herz vollends. Beides macht das drei Jahre später erschienene Live-Album „Captured“ zum besten Konzertmitschnitt des Genres.

Die Songs, die es praktisch für immer ins Live-Repertoire der Band schafften, sind die besten des Albums: Der San-­Francisco-Schwof „Lights“, der das Album mit einem Ausrufezeichen beginnt. Die fortan stets im Doppelpack gespielten Songs „Feeling That Way“ und „Anytime“, deren tolle Gesangssätze ein amerikanisches Pop-Rock-Gefühl konservieren. Das swingende „Lă Do Dā“, mit dem die Band noch einmal – und hier recht ­unvermutet – ihre Jazz-Rock-Wurzeln vorzeigt. Und natürlich „Wheel In The Sky“, der Hit, der der Band den Weg ebnete: ­hinauf in den Rock-Himmel der späten 70er-Jahre.

Styx: „Cornerstone“

Seit Tommy Shaw Styx’ Sänger und Gitarristen Curu­lewski 1975 ersetzt hatte, hatten die Chicagoer einen kreativen Konflikt: Während Shaw der Band den Hardrock beibringen wollte, bestand Styx-Gründungsmitglied Dennis DeYoung auf dem theatralischen Aspekt der Band. Auf „Cornerstone“ (1979) steht beides nebeneinander. DeYoungs Kompositionen klingen manchmal wie Musical-­Exzerpte, Shaw lässt die Gitarre brennen.

DeYoung schrieb den größten Hit des Albums: das mit einem wolkenweichen Schmuseklavier gespielte „Babe“, dessen Vers nach Billy Joel klingt. Man könnte das Lied ins All schießen, um Aliens die Musik jener Zeit zu erklären. Der andere, noch bekanntere Klassiker auf „Corner­stone“ ist das von Tommy Shaw geschriebene Mandolinenlied „Boat On The River“, dessen Mystizismus an den frühen Prog-Rock der Band erinnert.

America: „America“

Natürlich sind America vor allem Nachahmer ­jenes Sounds, den Crosby, Stills, Nash und Young kurz zuvor erfunden hatten. Doch die amerikanische Stimmfarbe und die Gesangsharmonien der Westküste konnten ja niemandem allein gehören! Dewey Bunnell, Dan Peek und Gerry Beckley entdeckten in England, dass sie so singen konnten wie ­ihre Vorbilder, nannten sich vielleicht aus Heimweh America und veröffentlichten 1971 „America“, ein kompaktes Westcoast-Folk-Rock-Album.

Weil der Erfolg ausblieb, musste die Band noch einmal ins Studio und nahm dort „A Horse With No Name“ auf. Das Neil Young nacheifernde Lied stieß Neil Youngs „Heart Of Gold“ von der Charts-Spitze. Das Songwriting ist nicht immer zwingend, und über manchen Text muss man schweigen. Aber ein schönes Zeitdokument ist „America“ dennoch.

The Alan parsons Project: „Tales Of Mystery And Imagination“

Alan Parsons hatte genug davon, sich als Toningenieur sagen zu lassen, wie man Platten aufnimmt, und rief mit Sänger und Songschreiber Eric Woolfson das Alan Parsons Project ins Leben. Das Debüt, „­Tales …“ von 1976, vertont mit einem großen Musiker­arsenal eine Auswahl von Werken von Edgar Allan Poe. Das Album stellt Parsons in Klang und Komposition einzigartige Expertise im britischen Art-Rock jener Zeit aus, plus sinfonischen Rock (und einige Pink-Floyd-Zitate).

Schönste Momente: die Beatles-­artigen Melodiekaskaden in „The Cask Of Amontillado“, der Vocoder-Gesang in „The Raven“, der für Parsons typische Synthie-Trompeten-­Marsch im selben Lied. Kern des Albums ist freilich die fünfteilige, 15 Minuten lange Vertonung von „The Fall Of The House Of Usher“. Das Konzept­album unter den Konzeptalben.

Teil 2:

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