Sister Act

Johanna Söderberg zieht sich ihr T-Shirt über den Kopf und sitzt in weißem BH und Jeans auf der Terrasse eines Bootsverleihs an der Spree. „Soll ich dich verdecken?“, sagt ihre Produktmanagerin stirnrunzelnd. „Kein Problem“, lacht Johanna und streift sich ein altmodisches Spitzenkleid über. „Wie findest du das?“, fragt sie ihre Schwester Klara, die auf einem Klappstuhl sitzt, um den gerade ein Visagist herumwedelt. Johanna hat sich eine schwarze Weste übergezogen, die mit goldener Bordüre und roten Mustern an eine Nacht am Lagerfeuer im Wilden Westen erinnert. „Nein, das funktioniert nicht“, stellt Klara fest. „Nein, das funktioniert nicht“, bestätigt Johanna. An diesem Vormittag sind die Schwestern an die Spree zur „Insel der Jugend“ nach Berlin-Treptow gekommen, um für den ROLLING STONE in ein Ruderboot zu klettern und fotografiert zu werden. Die Sonne verwandelt diesen Frühlingstag in Sommer, als hätten sich Himmel, Bäume und Fluss nur für den Fototermin auf eine besonders wildromantische Atmosphäre geeinigt.

Johanna und Klara Söderberg, Jahrgang 1990 und 1993, machen unter dem Namen First Aid Kit seit über sieben Jahren Folkmusik. Das Schwestern-Duo klingt, als stammte es nicht aus Enskede, einem Vorort Stockholms, sondern direkt aus den Appalachen oder dem Nashville der 30er-Jahre. Sie sprechen ohne Akzent amerikanisches Englisch. Klara spielt Gitarre und übernimmt den Leadgesang, Johanna spielt Keyboard sowie Autoharp und singt die zweite Stimme.

Schon zu Beginn ihrer Karriere waren Kritiker verzaubert von der stilistischen Konsequenz und dem Songwriting der Schwestern, die eine Welt erschaffen, die längst vergangen schien. Man könnte zu den gefälligsten ihrer Melodien glatt wegdämmern, würden einen ihre Stimmen nicht aufrütteln. Der Harmoniegesang ist das Markenzeichen des Duos. Der Gesang der Schwestern ist derart aufeinander abgestimmt, dass sie wie ein doppelköpfiges Wesen der griechischen Mythologie klingen. Andere Sängerinnen hauchen, schnurren, kokettieren. First Aid Kit trällern. Während Klaras Organ in seinen durchdringendsten Momenten an die Wucht einer Dolores O’Riordan erinnert, erdet Johanna diese mit ihrem butterweichen, fast souligen Timbre.

Doch die Geschichte von First Aid Kit beginnt mit einer Gitarre. Klara wünscht sie sich zum 12. Geburtstag – um die Lieder von Conor Oberst nachzuspielen. Nicht eben typisch für eine Zwölfjährige! Und während im Hause Söderberg Rock und Post-Punk gehört wird, entdecken Klara und Johanna ein paar alte Folk-und Country-Platten im Regal der Eltern für sich: Johnny Cash, Joni Mitchell und die Carter Family -statt Pink und Eminem. Unter ihren Mitschülern gelten die Mädchen als verschroben.

Gerade mal einen Akkord hat Klara sich beigebracht, da komponiert sie schon ihr erstes Stück. Irgendwann kommt sie auf die Idee, ihre ältere Schwester einzubinden. Ihr Vater Benkt, in den 80er-Jahren Mitglied einer Band namens Lolita Pop, hilft seinen Töchtern, zu Hause erste Demos mit seinem Equipment aufzunehmen. Mama Söderberg ist so stolz auf ihre Töchter, dass sie ihrer Freundin Karin Dreijer Andersson von deren Musik vorschwärmt. Die wohnt nicht nur in der Nachbarschaft, sondern ist als Mitglied des Elektronik-Duos The Knife zudem Mitinhaberin des Indie-Labels Rabid Records. Dreijer Andersson wird hellhörig und besucht einen Auftritt von Johanna und Klara. Sie sind gerade mal 14 und 16 Jahre alt, da unterzeichnen die Schwestern ihren ersten Plattenvertrag. Als sie im April 2008 die EP „Drunken Trees“ veröffentlichen, laufen ihre Songs bereits im Radio, und als sie im selben Jahr eine Coverversion von „Tiger Mountain Peasant Song“ der Fleet Foxes auf YouTube hochladen, ist die Netzgemeinde entzückt von den pausbäckigen Mädchen in Holzfällerhemden.

Nach diesem Erfolg wechselt das Duo zu Wichita Records, dem Label von Bloc Party und The Cribs, wo Anfang 2009 ihre EP erneut herausgebracht wird -diesmal mit dem begehrten Fleet-Foxes-Cover. 2010 folgt schließlich das Debütalbum „The Big Black &The Blue“, das ebenfalls von ihrem Vater Benkt produziert wird. Klara bricht die Schule ab, Benkt schmeißt seinen Job als Lehrer. Als Bassist begleitet er seine Töchter auf Tour durch die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Europa. First Aid Kit treten auf Festivals wie Glastonbury, Lollapalooza oder Austin City Limits auf.

Zurück in Berlin: Johanna hat sich schließlich für eine schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt entschieden, die bunte Hippie-Weste behält sie an. Klara lobt ihr Outfit. Überhaupt sind sich die Söderberg-Schwestern über ihren Look sehr einig. Beide tragen am rechten Mittelfinger ein Pfeil-Tattoo -aus Verbundenheit. Ihre nostalgische Musik wird von den Bohémien-Klamotten abgerundet, die sie auf Streifzügen durch Vintage-Läden finden. Klaras Make-up ist fertig, sie betrachtet sich im Handspiegel. Die Stirnfransen hängen ihr tief in die Augen. Das soll so sein, sie mag ihre Augenbrauen nicht. Klara zieht sich eine bunte Bluse über, an ihrem linken Unterarm blitzt eine tätowierte Feder auf. Johanna schlüpft derweil in goldene Keilabsatzschuhe. „Man sollte stolz sein auf seine Größe“, sagt die 1,84 Meter große Blondine. Sie wohnt mit ihrem Partner in Stockholm, Klara ist im Frühling zu ihrem Freund nach Manchester gezogen. „Na ja, du lebst da nicht wirklich“, sagt Johanna. Denn die Wahrheit ist: Beide leben seit vier Jahren in Hotelzimmern und im Tourbus.

Man kann first aid kit als eine Live-Band bezeichnen. Während andere Teenager zur Schule, ins Kino oder auf Partys gehen, verbringen Klara und Johanna ihre Jugend auf Bühnen, bei Promotion-Terminen und in Hotelzimmern. „Live wird unsere Musik zum Leben erweckt“, sagt Klara. „Eine CD macht man für sich selbst in seiner eigenen Welt, aber auf der Bühne sieht man, was die Songs den Menschen bedeuten.“ Live singen sich die beiden die Seele aus dem Leib. „Wer bekommt schon eine solche Chance? Wir müssen sie einfach ergreifen“, sagt Johanna. „Für unsere Freunde ist es schwer nachzuvollziehen, was wir tun. Wir leben in unserer eigenen Seifenblase.“ Klara fügt hinzu: „Aber dafür machen wir jeden Tag das, von dem wir geträumt haben, seit wir denken können. Wir hatten nie das Gefühl, viel zu verpassen. Wir haben keinen Grund, uns zu beschweren.“ Beide schauen auf die Spree. „Wir mussten schon früh Verantwortung für uns selbst übernehmen, wir haben schnell und viel gelernt“, sagt die Ältere. Klara und Johanna strahlen die lässige Ruhe zweier alter Seelen im Körper zweier junger Frauen aus. Säßen sie nicht hier, sie könnten ebenso gut in einem Schaukelstuhl auf einer Südstaaten-Veranda vor sich hin wippen und in die Maisfelder schauen. Zwei Europäerinnen und ihre frühe Liebe zur amerikanischen Folklore, das ist einigermaßen skurril -und einzigartig.

Klara und Johanna schreiben schon als Jugendliche über die großen Fragen im Leben. Mit 15 und 18 Jahren texten sie „You’re Not Coming Home Tonight“, das von einer vernachlässigten Hausfrau erzählt, die in einen Zug steigt und ihren Mann verlässt. „Es war hart, von den Leuten nicht ernst genommen zu werden, weil wir so jung waren“, erzählt Johanna. Ganz so, als dürften sich junge Mädchen nur über Jungs oder ihr Aussehen Gedanken machen. Aber vielleicht sind Johanna und Klara auch einfach ein bisschen frühreif? Sie winken ab. „Wir schreiben halt, was uns durch den Kopf geht. Ich finde nicht, dass unsere Gedanken besonders sind. Vielleicht haben wir bloß einen guten Weg gefunden, sie in Worte zu fassen.“ Johanna nickt entschieden: „Ich würde nicht sagen, dass wir weiter sind als Gleichaltrige.“ Waren sie nie unsicher?“Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, sagt Klara. „Ich glaube, wir haben unsere Identität durch unsere Arbeit gefunden“, erklärt Johanna. „Wir wussten schon früh, wer wir sind und was wir machen wollen.“ Das sei auch der liberalen Erziehung ihrer selbstbewussten Mutter zu verdanken.

Es ist die Musik ihrer Kindheit, die sie ihre Songs komponieren lässt. „Folk-und Country-Musik handelt vom Leben und wie man damit umgeht“, sagt Klara. „Heutzutage ist es egal, wo man herkommt. Americana ist nicht nur Amerikanern vorbehalten. Solange man den Text versteht, kann sich jeder damit identifizieren.“ Es ist fast immer die Jüngere, die den Grundstein für einen Song legt. Dann setzt sie sich mit der Gitarre hin, probiert herum. Kommt ihre Schwester schließlich hinzu, wird eine runde Sache daraus.

Natürlich ist das alles schon mal da gewesen. Natürlich haben die schwedischen Schwestern Folkrock nicht neu erfunden. Und vielleicht ist die Musik von First Aid Kit den Fans ihrer Idole – Townes Van Zandt, Leonard Cohen, Bob Dylan – zu „nett“, zu sehr der Tradition verhaftet. Aber obwohl nicht alles originell ist, etwa die Küchenkalender-sei-du-selbst-Affi rmation in „In The Hearts Of Men“ („But what you tell yourself, you all must be what you‘ ll be/Who’s to say who is who and what is what, if you simply don’t agree“), kann das den Söderberg-Schwestern egal sein. Denn ihre Stärke ist das Unprätentiöse -es gibt keine Trennung zwischen den privaten Schwestern und jenen auf der Bühne. Selbst bei Stücken, die fiktionale Geschichten erzählen, meinen sie jedes Wort genau so, wie sie es singen. „Wir sind sehr bodenständig, zumindest versuchen wir, es zu sein. Arrogant ist das Letzte, was ich sein möchte“, sagt Johanna. Als Inspiration nennen die beiden Bright Eyes und die Singer/Songwriterin Jenny Lewis. „Sie sind so ehrlich. Es war einfach, ihrem Beispiel zu folgen. Wir wollen stets aufrichtig sein zu uns und dem Publikum.“

Ihr zweites Album, „The Lion’s Roar“ von 2012, wird ein noch größerer Erfolg als das Debüt. Produzent ist Bright-Eyes-Gitarrist Mike Mogis. Das heimische Schlafzimmer wird gegen ein Tonstudio in Omaha, Nebraska getauscht. Die Felice Brothers und, ja, auch Conor Oberst steuern einige Parts bei. „Viele Leute meinen, man solle nie seine Idole treffen, weil sie einen enttäuschen“, sagt Johanna. „Ich aber bin begeistert von ihnen! Conor Oberst ist noch mehr, als wir uns vorgestellt hatten: so leidenschaftlich, intelligent, lustig und dabei bescheiden“, schwärmt Johanna.

Vielleicht ist es der Folk-Hype um Bands wie die Fleet Foxes oder Mumford &Sons, der den Erfolg von First Aid Kit erklärt. Vielleicht ist es auch die Sehnsucht nach handgemachter Familienmusik in Zeiten von Autotune und Elektro-Säuselei. Mit ihrem neuen Album „Stay Gold“ haben sich die Schwestern vollends im saloontauglichen Country eingerichtet. Das Arrangement ist üppiger, es gibt mehr Streicher, Holzbläser, Pedal-Steel-Gitarren. War sie bisher zu schüchtern, tritt Johanna jetzt aus dem Hintergrund und übernimmt Solo-Parts.

Gibt es bei so viel Harmonie nicht mal Streit?

Klara:“Wir sind uns musikalisch immer einig. Aber als Menschen sehr unterschiedlich.“

Johanna: „Klara ist mehr so der Hippie.“

Klara lacht.

Johanna: „Doch, das stimmt! Du bist frei und gelassen.“

Klara grinst.

Johanna: „Und auch ein bisschen faul.“

Klara nickt. Johanna: „Klara möchte tun, wonach sie sich fühlt. Ich aber kann mich gut zu etwas zwingen. Und Klara einen Ruck geben, wenn es nötig ist.“

Klara: „Du bist echt nicht faul.“

Johanna: „Nein.“

Klara: „Jeder Mensch ist auf seine eigene Art kompliziert.“

Johanna: „Aber ich denke, wir bringen das Beste der anderen zum Vorschein.“

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