Folge 22

Smartphonekultur

Ein Telefon immer und überall mit sich zu führen, erleichtert die Kommunikation. Aber manchmal kann die Handy-Abhängigkeit sie auch zu sehr unangenehmen Erleichterungen führen, wie unser Kolumnist zu berichten weiß.

Der Begriff „kollektive Bequemlichkeitsverblödung“, den ich einige Kolumnen zuvor bereits vorstellte, passt ebenfalls optimal auf die Auswirkungen, welche die aktuelle Smartphonekultur auf uns hat. Abgesehen von all den Menschen, die es nicht mehr schaffen, aufmerksam und geraden Blickes einen Bürgersteig entlang zu gehen, die SMS lesend andere Menschen umrennen, in Gullilöcher fallen oder auf befahrene Straßen rennen und dort von Lastern überfahren werden. (Denken Sie doch zur Abwechslung mal an all die traumatisierten Lasterfahrer.) Abgesehen davon lassen sich die Effekte gerade auch organisch erspüren.

Bei einem Freund von mir, einem Künstler, ist es zum Beispiel so, dass er sich irgendwann angewöhnt hat, mit dem Smartphone auf die Toilette zu gehen. Grade auch zum sogenannten „sitzenden Geschäft“, um sich dort etwas die Langeweile zu vertreiben. Dadurch aber hat sich seine Unterkörpermuskulatur darauf eingestellt, ihre Pforten erst zu öffnen, wenn vorne auf dem Display eine Nachricht angezeigt wird. Wenn er vorne kein Smartphone in den Händen hält, bleibt es hinten eisern verschlossen. Als ihm sein Gerät eines Tages kaputt ging, hat er sich mit Filzstift ein Smartphone auf ein Stück Papier gezeichnet und es sich auf der Toilette vor die Augen gehalten. Das hat, so berichtet er, ganz gut funktioniert.

Er sagt er wäre eigentlich ganz zufrieden mit diesem neuen Biomechanismus, wenn das Ganze nicht auch zu verheerenden Problemen führen könnte: Vor einiger Zeit saß er mit einer Galeristin – einer etwas kühlen, älteren Person – in einem feinen Restaurant beim Essen. Er hatte sich standesgemäß mit einem hellen Leinenanzug herausgeputzt und erhoffte eine geschäftliche Verbindung zu der einflussreichen Dame aufbauen zu können.

Sie unterhielten sich angeregt, redeten über Literatur. Die Dame holte weit aus und monologisierte schwelgerisch über Kunst im Allgemeinen und die Documenta im Speziellen, während mein Freund auf die Toilette musste und diesen Impuls etwas gequält unterdrückte. Auf einmal zuckte die Dame überraschenderweise ihr Handy um ihm – meinem Freund – eine erhaltene Whatsapp-Nachricht zu zeigen. Innerhalb von einer Sekunde, noch bevor er begriff, wie ihm geschah, hatte sein Körper auf das grüne Ampelsignal reagiert und alle Schleusen geöffnet. Er versuchte noch mit purer Willenskraft, einen Notstop einzulegen, aber vergeblich. Seine Unterkörpermuskulatur hatte komplett losgelassen, extrahiert und innerhalb von wenigen Sekunden war seine Hose unter dem Tisch deutlich gefüllt, während sich sein Kopf über dem Tisch tiefrot verfärbte.

Die Dame war irritiert. Sie verstand den Zusammenhang nicht zwischen ihrer vollkommen harmlosen SMS, dem hochroten Gesicht ihres Gegenübers und der auf einmal auftauchenden, äußerst unangenehmen Geruchsfahne um sie herum.

Wir sollten uns demnach körperlich nicht allzu sehr abhängig machen von unseren Kommunikationswerkzeugen. Die Galeristin hat sich übrigens für einen anderen Künstler entscheiden. Besser gesagt für eine Künstlerin.

 

P.S. Bitte denkt an unsere große Versteigerung „PUDEL ART ACTION“ im Schauspielhaus Hamburg am 20.10.22 um 20 Uhr. Dort werden die schönsten Privatgegenstände von Künstler-*innen und Medienarbeiter*innen wie DJ Koze, Peaches, Chilly Gonzales, Axel Prahl, Linda Zervakis, Caren Miosga, den Toten Hosen, Bela B. Felsenheimer, Daniel Richter und vielen anderen versteigert. Der Gewinn geht direkt an die Opfer des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Falls Ihr an dem Tag nicht in Hamburg seit könnt ihr online mitsteigern über: https://www.lot-tissimo.com/de-de

Wir brauchen Euch. Und Euer Geld. Zumindest ein bisschen davon.

 

Autorenbild von Kerstin Behrendt

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