Tell me when the spaceship lands: So waren Pulp auf dem Melt! 2011

Bei Sauwetter und vor anfangs recht leeren Publikumsreihen lieferten Pulp im Allgemeinen und Jarvis Cocker im Speziellen einen fulminanten und befeierten Gig. SO muss eine Reunion aussehen!

Zehn Minuten vor Pulp auf dem Melt! – und es war ein Bild der Trauer. Man stand unter dem Vordach einer Bierbude, vom Himmel kübelte es die von den Engländern so gerne herbeizitierten „cats and dogs“ und vor der Bühne, auf der in wenigen Minuten eine der tollsten, intelligentesten, charmantesten Popbands dieser Zeit eines ihrer raren Reunion-Konzerte spielen würde, versammelten sich gerade mal ein paar hundert Menschen in Regencapes. Wer hätte in diesem Moment zu denken gehofft, dass man später vor einem Kollegen steht und fragt: „Waren Pulp Sonntag eigentlich wirklich so göttlich, oder kommt da bei der Fanboy in mir durch?“ Die Antwort des Kollegen lautete übrigens: „Ja, waren sie!“.

Schon im Vorfeld hörte man, dass Pulp bei ihrer einzigen Deutschland-Show im Reunion-Reigen eher Klotzen statt Kleckern. „Die sind gleich mit zwei Trucks angekommen“, stellten die Melt!-Veranstalter verdutzt fest, die eigentlich seit Björks Auftritt im Jahr 2008 aufwendige Produktionen gewohnt sind. Auch Jarvis Cocker legte Wert darauf, dass bestimmte Effekte „loads of money“ gekostet hätten.  So zum Beispiel die kleine Kamera, die er zu „I Spy“ in die  Gesichter, Augen und Nasenlöcher der ersten Publikumsreihen schob. Mit diesem Vorwissen fragte man sich, was wohl die Band gedacht haben muss, als sie um kurz nach elf das Intro zu ihrer Show durch die Boxen schickte und dabei auf die traurige  Menge vor der Bühne schaute.

Aber als das, was man für ein Feedbackpfeifen hielt, langsam zum Intro von „Do You Remember The First Time“ anschwoll und ein Laser die ersten Aufmunterungen auf eine vor die Bühne gespannte Stoffwand projizierte – da kamen doch die meisten aus ihren Löchern und machten sich trotz Bindfadenregen bereit. „Make some noise!“ – wenige Sekunden später in der umlauftfreien Übersetzung „Macht Larm!“ – forderte der Schriftzug und verkohlte die Anwesenden ebenso wie er sie ermunterte. „Say yeah!“, hieß es da, ebenso wie „Do you think that’s funny?“ oder „Do you wanna see some dolphins?“ Als der Jubel dies bejahte, „schwamm“ dann tatsächlich ein debil grinsender Delphin über die Leinwand. Grüßte da der „Hitchhikers Guide“? Mit welchen Worten das Spielchen endete, ahnte man schon länger: „Do You Remember The First Time?“, fragte der Laser…

Und ja, in diesen Sekunden erinnerte man sich an das erste Mal mit dieser Band (hier sind Konzerte und nicht Beischlaf-Soundtracks gemeint) – vorausgesetzt man hatte eins: Im Falle des Autors war es ein nachmittäglicher Gig auf dem zweiten Hurricane-Festival im Jahr 1998, bei dem man übereuphorisch in der zweiten Reihe stand, Pulp aber allenfalls solide Kost lieferten und sich mit dem Fazit „ganz OK“ ins Hirn brannten – was natürlich viel zu wenig ist. Die bange Frage, ob das nun vor dieser Kulisse anders wird, war schnell gegessen. Zum einen, weil Pulp sie sich augenscheinlich nicht stellten und zum anderen, weil die Anwesenden sich verdammt noch mal diesen Abend nicht versauen lassen wollten. Und so riss man die Arme in die Luft, schleuderte im Übermut das Regencape von sich und sang „Do you remember the first time? / I can’t remember a worse time / but you know that we’ve changed so much since then /Oh yeah, we’ve grown.“

Das auch Pulp gewachsen bzw. älter geworden sind, mochte man dem ein oder anderen Bandmitglied ansehen – hören konnte man es nicht. Und auch in Sachen Bühnensport wirkte zumindest Jarvis Cocker noch immer wie ein junger Derwisch, der die Bühnenkilometer im Dutzend abriss. Dass Cocker das Zentrum der Show war, mochte klar gewesen sein, trotzdem brauchte es natürlich Candida Doyle, Mark Webber, Steve Mackey, Nick Banks und Russell Senior – das legendäre „Different Class Line-up“ -, die zwar bisweilen statisch aber musikalisch präzise und mächtig diese Pop-Hymnen errichteten, die man so liebte.

Ein Ohren- und Augenschmaus sondergleichen, wie Cocker sich zum zweiten Song „Pink Glove“ einen imaginären Handschuh überzog, wie er immer wieder auf den Boxenturm kletterte, wie er seinen Unterleib zu „This Is Hardcore“ am Equipment rieb, wie er zu „I Spy“ das Publikum mit besagter Kamera anscharwenzelte, wie er als Inkarnation eines selbstironischen Gockels immer wieder sein Hemd in die Hose stopfte, bevor er zur nächsten Bühnenerstürmung ansetzte. Die Überhits waren dabei perfekt gesetzt: „Do You Remember The First Time“, als Opener, „Disco 2000“ als erster Song nach dem Ende des Regens, „Common People“ als krönender Abschluss. „I wrote this song about something that happened to me years ago – but I think it’s still relevant today.“ Das kann man – musikalisch wie lyrisch – bestätigen. So war denn auch bei diesen Nummern kein Halten mehr: Wer gerade ein volles Bier bekommen hatte, bevor zur „Disco 2000“ geladen wurde, sah sich genötigt, dies auf Ex zu trinken oder es schlicht beim Mitspringen und -Singen zu verschütten. Und wer zu den ersten Klängen von „Common People“ seinen Nebenmann fragte, wie spät es denn sei, der durfte keine Antwort erwarten – da sich schon jeder in der zweifelhaften Gesellschaft einer versnobbten Göre wähnte, die am Saint Martins College studierte.

Es waren jedoch nicht nur die offensichtlichen Hits, die bewusst machten, wie jammerschade es ist, dass es diese Band nicht mehr so wirklich gibt. Das stoisch beginnende „O. U. (Gone, Gone)“ zeigte sein von vielen vergessenes Potential. „Sunrise“ – vom Pulp-Schwanengesang – stellte klar, dass „We Love Life“ immer noch viel besser ist, als sein Ruf. „Babies“, der Song, der Pulp einst den Major-Deal mit Mercury eingespielt hatte, bleibt und bleibt und bleibt der charmierende Pop-Song, der er ist.

„Different Class“ bildete jedoch den melodiegewaltigen Mittelblock der Setlist:  „Pencil Skirt“, „Something Changed“, „Disco 2000“, „Sorted For E’s & Wizz“, „F.E.E.L.I.N.G.C.A.L.L.E.D.L.O.V.E“ und „I Spy“ wurden gar hintereinander gespielt. Gerade „Sorted For E’s & Wizz“ passte natürlich zu diesem Festival und wurde mit johlendem Jubel und gelegentlichem Gelächter quittiert: „Oh is this the way they say the future’s meant to feel? / Or just 20,000 people standing in a field. / And I don’t quite understand just what this feeling is. / But that’s okay cos we’re all sorted out for E’s and wizz. / And tell me when the spaceship lands cos all this has just got to mean something.“ Man tausche das Feld gegen einen Industriepark und man hatte wohl das, was viele als Melt!-Feeling ähnlich beschrieben hätten. Nur mit dem Unterschied, dass die Raumschiffe hier bereits gelandet waren: Die riesigen Braunkohlebagger sahen zumindest in ihrer Festbeleuchtung aus, als wären sie gelandet und nicht geparkt worden. Und der Refrain, auch der passte: „In the middle of the night, / it feels alright, / but then tommorow morning. / Oh then you come down.“

Aber soweit war es ja erst einmal noch nicht: Da war schließlich noch das gewaltige „This Is Hardcore“, zu dem Cocker den Lüstling gab und einen Boxenturm – pardon – anrammelte, während er hauchte und stöhnte und seufzte und sang. Mit dem zärtlichen „Underwear“ hatte er sich zuvor in diese „Hardcore“-Stimmung gebracht, dabei seinen so sanften wie bösen Gesang mit wehenden Armen begleitet und das Geigensolo von Russell Senior mit geschlossenen Augen „dirigiert“. Nach einem letzten Gang in die „Bar Italia“ – und damit wieder in ihre erfolgreichste Phase – kam dann „Common People“ als letzter Höhepunkt des leider zugabefreien Sets. Ein Popsong, wie er sein sollte, einer der all die oben runtergebeteten, abgeschmackten Superlative, die man ihnen anhängen möchte – tollster, intelligentester, charmantester – in sich vereint. Und auch hier natürlich kein Halten mehr unter den Anwesenden, selbst wenn man mit 3.000 Menschen natürlich nicht die Stadionsangesstärke aufbringen kann, die das Lied eigentlich verdient hätte.

So ging es also – viel zu schnell – vorbei: Die großen, leuchtenden Buchstaben P U L P, flackerten noch einmal von der Bühne und mit jedem Aufleuchten fiel einem ein Song ein, den sie auch hätten spielen sollen / können / müssen. „Acrylic Afternoons“, „Lipgloss“, „Mis-Shapes“, „Dishes“, „Glory Days“, „The Day After The Revolution“, „Master of the Universe“, „They Suffocate at Night“, „I Love Life“, „Bad Cover Version“, „The Birds In Your Garden“. Da half am Ende nur eins: Sich das Ausbleiben, das Vermissen dieser Songs musikjournalistisch schönreden und vielleicht einen Satz wie diesen stelzen: „Pulp bewiesen ihre Qualität auch mit dem, was sie NICHT spielten. Was sie wegließen, weil sie es können, weil sie genug große Popsongs haben, um auf (hier betreffende Auflistung einfügen) zu verzichten.“

Hier die Setlist des Pulp-Gigs vom 17. Juli 2011 auf dem Melt! Festival:

Do You Remember The First Time?
Pink Glove
O.U. (Gone, Gone)
Pencil Skirt
Something Changed
Disco 2000
Sorted For E’s & Wizz
F.E.E.L.I.N.G.C.A.L.L.E.D.L.O.V.E
I Spy
Babies
Underwear
This Is Hardcore
Sunrise
Bar Italia
Common People

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