The Velvet Underground: Dokument der Auflösung

Die Doppel-CD "Fully Loaded Edition" beleuchtet das Ende von "Velvet Underground" und erhellt die letzten Fragen.

Schlagzeugerin Maureen Tucker fehlte, weil sie ihr erstes Baby erwartete. Gitarrist Sterling Morrison holte sein Studium nach und war deshalb ständig übermüdet Und Lou Reed verließ die Band einen Monat bevor ihre letzte LP erschien. „Loaded“ ist das reguläre vierte Album von Velvet Underground – obwohl eigentlich nichts an den Aufnahmen regulär erscheint („Squeeze“ von 72 war nur noch Etikettenschwindel). „Loaded“ wird noch heute ein Velvet-Underground-Album genannt“, sagt Reed. „Aber in Wirklichkeit ist es etwas anderes.“ Nämlich: eine Sammlung von Hits aus Reeds Feder, bei der nicht ganz geklärt ist, wer das Steuer in der Hand hatte. „Loaded“ ist ein Klassiker – und es ist das Dokument einer Band im Auflösungszustand. Durch die „Fully Loaded Edition“, eine Doppel-CD mit unveröffentlichten Outtakes und Demos aus dem Frühjahr 1970, wird dieses düstere Kapitel jetzt ein wenig erhellt. Wer waren Velvet Underground zu jenem Zeitpunkt?

Toningenieur Bill Inglot stieß auf die Tracks, als er Nachforschungen zu der umfangreichen Velvet-Underground-CD-Box „Peel Slowly And See“ anstellte: „Es bedurfte keines großen Aufwands, denn seltsamerweise war bis dahin nur noch niemand auf die Idee gekommen, nach den Aufnahmen zu suchen.“ Wichtige Ergänzungen zu „Peel Slowly“ von ’95 finden sich auf „Fully Loaded“, so 17 bislang unveröffentlichte Versionen bekannter Songs.

Einige interessante Erkenntnisse bietet die zweite CD der Box, auf der aus Demos und frühen Aufnahmen eine Alternativ-Version von „Loaded“ zusammengestellt wurde. „I Found A Reason“ intoniert Reed als Country-Blues. Bei der Hymne „Sweet Jane“, hier ein erster Entwurf mit fragmentarischen Texten, wird die Rhythmusarbeit auf einer Kuhglocke geleistet Und in der Low-Fi-Version von „Oh! Sweet Nuthin'“, später opulent im Gospel-Stil von „Hey Jude“ produziert, federn die Feedbacks.

Doug Yule, der erst gut ein Jahr vor der Produktion von „Loaded“

den Platz des geschaßten John Cale eingenommen hatte, aber dann eine integrale Funktion in der auseinanderbrechenden Formation erfüllte, erinnert sich: „Die Songs des Albums sollten Radio-Format besitzen, drei bis fünf Minuten lang sein und kraftvoll klingen.“ Manager Steve Sesnick wollte Velvet Underground, bis dahin von Kritik und Käufern gleichermaßen ignoriert, chart-kompatibel machen. Doch die jetzt vorliegende AIternativ-Version, glaubt Yule, entspreche schon eher dem, was auf den Konzerten passiert sei. Oft wird nämlich vergessen, daß Velvet Underground sich primär als Live-Band verstanden haben. Was denn auch erklärt, daß Reed nur deshalb im Studio ein paar Gesangsparts an Yule abgetreten hat, weil er bei den ausgedehnten Tourneen seine Stimme verloren hatte.

Doch die meisten Songs singt er selbst, und der Grantier steckt dabei eine weite vokale Bandbreite ab vom fließenden Falsett des Doowop bis zum Sprechgesang, der nie rauher war als bei „Head Held High“. „Loaded“ ist ein Experiment in Sachen Stimme. Und es ist vor allem ein Album von Lou Reed. Mag sich der Künstler auch schon innerlich von seinem Ensemble verabschiedet und die Aufnahmen wohl eher mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Genervtheit absolviert haben, so war das Jahr 1970 dennoch eine seiner kreativsten Phasen. In dieser Zeit hat er einen guten Teil der Songs geschrieben, die er über die folgenden Solo-Platten streute. So finden sich etwa „Satellite Of Love“ und „Love Makes You Feel“

auf „Fully Loaded“ schon als anregende Entwürfe. Vom geheimnisvollen „Ocean“ gibt’s hier gleich zwei frühe Versionen. Im Gegensatz zu den Credits der „Peel Slowly“-Box hat man den Namen John Cales aber mit einem Fragezeichen versehen. Keiner weiß ganz genau, ob er bei diesem Stück die Orgel gespielt hat. Die „Fully Loaded Edition“ – seriös recherchiert und von David Fricke mit umfangreichen Linernotes versehen – gewährt einen tiefen Einblick in das Schaffen einer moribunden Band. Doch am Ende siegt die Mystik.

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