The XX – Blick zurück nach vorn

Hier rollt die neue Welle: Mit ihrem zweiten Album definieren The XX den Sound des Jahres. Der Rolling Stone hat die britischen Pop-Revolutionäre ins Studio und auf die Bühne begleitet

Neulich, am Rande der New-Order-Tour, hat Kevin Cummins noch einmal erzählt, wie das damals war. Mit den Bildern von Joy Division in schroffen Schwarz-Weiß-Abzügen und der frühen epochalen Optik des Factory-Labels aus Manchester. Der englische Fotograf hatte Anfang der Achtziger für den „NME“ kongeniale Images für einen merkwürdigen, neuen Sound geschaffen. Nachdenkliche Gestalten auf öden Fußgängerbrücken, graue Straßenszenen vor maroder Industrie-Kulisse. Postpunk und New Wave in Zeiten der wirtschaftlichen Depression. „Es gab kein großes Konzept für diese Sessions. Ich wollte die Stimmung einer Musik vermitteln, die es bislang so nicht gab“, erklärt Cummins.

Dreißig Jahre später sind die toten Backsteinhallen aus der Joy-Division-Ära längst entkernt. Neues Leben gedeiht hinter gesäuberten Fassaden. Der Waterside Complex in der Nähe des Londoner Regent’s Canal ist eine dieser postmodern aufgemöbelten Fabrikanlagen. Die Victoria Miro Gallery ist nicht weit, der Nachbarschafts-Pub heißt „The Narrow Boat“. Ein kühler Wind zieht durch die Gassen, als wir uns zum ersten Mal auf die Spur des lange erwarteten zweiten Albums von The xx machen. Sie führt vor ein schweres, altes Aufzugsgitter. „Es sieht schon verdammt industriell hier aus“, begrüßt uns Romy Madley Croft und zuckt entschuldigend mit den Achseln. Das Aufzugsgitter quietscht verächtlich, als sie es beiseiteschiebt, um uns in das Aufnahmestudio ihrer Band zu führen. „Mit dieser Vergangenheit werden die hier zu vermietenden Wohnungen sogar vermarktet.“ Eine Umgebung, in der auch „Breaking Glass“ hätte gedreht werden können, der von Dodi Al-Fayed ko-produzierte Film von 1980 über Aufstieg und Fall einer New-Wave-Band. Wieder so ein Verweis in eine Zeit, als die Zukunft noch industriell aussah. Kein Wunder, dass über den Einlass ins Studio in diesen Gemäuern immer noch ein Hausmeister entscheidet – und kein Hightech-Sicherheitssystem. Ob er weiß, dass in seinem Haus gerade Musikgeschichte geschrieben wird? Egal. Hauptsache, er muss nicht das Aufzugsgitter reparieren. Ein perfekter Ausgangspunkt für eine Band, die zwischen den Zeiten schwebt.

Das Debüt von The xx hatte die britische Musikszene vor drei Jahren in Euphorie und Aufbruchsstimmung versetzt. Aus ihrem eigenen luftdichten Kosmos heraus spielte die Band aus Putney im Londoner Süden mit einer aus den Atmosphären und Klängen der frühen britischen New Wave stammenden Vergangenheit, die in ihrem aufregend neuen Sound mitschwebte. Konkrete Reverenzen oder Verweise brauchte es nicht. Es waren vage Erinnerungen an Kevin Cummins Schwarz-Weiß-Bilder von damals. Das schlicht „xx“ betitelte Album präsentierte sich als musikalisches Sparprogramm, das intensiver nicht hätte ausfallen können. Selten war Minimalismus magischer. „Islands“, „VCR“ und „Crystalised“ suchten keine Nähe und berührten doch. Sie ließen einen gefrieren und spendeten gleichzeitig Wärme. Wirkte ein Detail wie zufällig und en passant, so war das der Ausdruck von höchster Präzision. Murmelten Gitarristin Romy Croft oder ihr Sparringspartner Oliver Sim im Vorbeigehen etwas in ihrer spröden Art dahin, war ihr Gemurmel doch voller Sehnsucht und Verletzlichkeit. „Sounds small but feels enormous“, komprimierte der Kollege der „LA Times“ den xx-Effekt. „Basic Space“ heißt ein Song, der seine musikalische Inhaltsangabe im Titel mitliefert. Weniger ist mehr.

Ein kristallklarer, kühler Wind aus einer Zukunft, die schon Vergangenheit war. Und dennoch klingt das Album an keiner Stelle gestrig, sondern immer nach Jetzt. Aber natürlich führte die Platte mit dem großen ausgestanzten X zurück in die Zeit der Factory-Ästhetik. Da grummelten die Basslines der Young Marble Giants und Comsat Angels. Da kündeten die Keyboardteppiche vom einsetzenden Frost. Und die Band trug auch noch Existenzialisten-Schwarz und führte Schuhmodelle vor, die an Wochenenden erinnerten, an denen wir mit dem unbeheizten Reisebus der Schnäppchenfirma „Rainbow Tours“ nach London schipperten, um uns bei „Shellys“ mit Creepers einzudecken.

„Wir lieben Farben“, unterbricht Bassist Oliver Sim den Gedankengang lakonisch. Er wirkt androgyn, spricht weich akzentuiert und wehrt sich gegen jede voreilige Einordnung. „Kannst du dir vorstellen, dass wir in Big Sur einmal vor einem leuchtenden Sonnenuntergang unter freiem Himmel auf einer Klippe gespielt haben? Das war unglaublich“, ergänzt Romy mit ihrem jungshaften Tomboy-Charme. Sowohl optisch als auch stimmlich könnte sie als Tochter von Tracey Thorn, der weiblichen Hälfte des Popduos Everything But The Girl, durchgehen.

All diese Verweise! „Mit den meisten dieser Bands haben wir uns erst beschäftigt, nachdem wir mit ihnen verglichen wurden“, sagt Romy. „Wir besitzen natürlich Platten von The Cure, aber von My Bloody Valentine oder den Young Marble Giants hatten wir noch nie vorher gehört. Ich habe dann irgendwann die Cocteau Twins ausgecheckt und bin nun ein großer Fan von ihnen.“

Was die Bands jener vergangenen Zukunft und The xx der Gegenwart eint, lässt sich als „Futurismus“ etikettieren. Synthiepopper wie Soft Cell und Depeche Mode, New Romantics wie Spandau Ballet und Duran Duran, Vertreter des Sound Of Young Scotland wie Orange Juice und Aztec Camera und düsterere Kameraden wie Joy Division bzw. New Order und The Wake, so unterschiedlich sie auch sein mochten, fanden sich unter dem Banner „futuristisch“. Bis Mitte der Achtziger gab es bei einigen Radiostationen nicht nur Alternativ- oder Independent-, sondern auch Futuristic-Charts. Als futuristisch empfand auch Pop-Innovator und Dubstep-Großmeister James Blake den xx-Sound. Ihr Minimalismus, so Blake, hätte die veränderten Hörgewohnheiten aus der elektronischen Musik in den (Indie-)Pop gebracht, der dann wiederum den Elektronikunderground inspiriert hätte.

Wohin man in den vergangenen Monaten auch geriet – The xx waren schon da. Bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver wurden zu ihren Songs Medaillen verteilt, Karl Lagerfelds Models stolzierten dazu in seiner neuen Kollektion über den Catwalk. Man konnte ihnen weder bei „Grey’s Anatomy“ noch bei „The Vampire Diaries“ entkommen. Womit unterlegte die BBC ihre Berichterstattung von den britischen Unterhauswahlen? Genau! Jamie xx, geborener Smith, durfte gar das Thema von „Newsnight“ bearbeiten und damit das britische Äquivalent der „Tagesthemen“ einmalig untermalen. Und auch bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 liefen die Teams zu The xx auf den Rasen.

Drei Jahre ist es also her, dass Romy, Oliver und Jamie als Teenager-Band die Popkultur zum ersten Mal mit ihrem neuen Sound aufrollten. Nun sitzen sie im vom lapidaren Hausmeister bewachten Waterside Complex und haben das Projekt „zweites Album“ vor sich. Ihr Studio sollte eigentlich lichtdurchflutet sein. Vielleicht haben sie es aber auch nur ein bisschen voll gestellt. Unausgepackte Vinylpäckcken zwischen Gitarren, Flyern, Umschlägen, Pappkartons und Equipment. Wohl dem, der hier noch eine Kaffeetasse oder ein Wasserglas wiederfindet – von einer Melodie ganz zu schweigen.

Drei starke Individuen – Keyboarderin Baria Qureshi war schon 2009 ausgestiegen -, die sich noch immer als „echte“ Band verstehen. Die Mannschaft ist der Star. Umso erstaunlicher, als Jamie xx in den vergangenen Jahren zu einem der gefragtesten Remixer des Pop-Empires avanciert ist. Radiohead und Drake buhlten um seine Gunst, während sich Label-Kollegin Adele anfangs zierte. „Ich musste sie erst mühsam überzeugen“, erzählt Jamie, dessen Version von „Rolling In The Deep“ von „NME“ zu einem der „Best Tracks of 2011“ gewählt wurde. Höchste Weihen erlebte Jamie schließlich, als er das letzte Album des Soul-Jazz-Poeten und Rap-Godfathers Gil Scott-Heron bearbeiten durfte. „Ich konnte ihn einige Male vor seinem Tod treffen. Ohne seine Zustimmung hätte ich ‚I’m New Here‘ auch nicht remixt.“ Wenn es um die Musik anderer geht, auch um die pure Sammlerleidenschaft wie sie in Nick-Hornby-Romanen beschrieben wird, taut Jamie auf – ansonsten ist er nämlich kein Freund der großen Worte und schon gar nicht der lauten (oft nickt er nur in Richtung Diktafon). Also erzählt er von einem day off in Chicago, wo er „die besten Plattenläden der Welt“ aufgetan habe: „Was es da alles an alten House-Maxis und Testpressungen gab, Wahnsinn!“ Wichtigster Fund der vergangenen Wochen: Ein paar Tracks vom winzigen Kölner Techno-Sublabel Zaubernuss.

Jamies DJ-Leidenschaft steht aber auch ganz im Dienst der Band. „Es ist schwer, mit der Dance-Szene heute mitzuhalten“, seufzt Oliver. „Erst gab es Garage, 2 Step, dann Dubstep, Progressive, jetzt Dark Techno … Jamie beschäftigt sich ausgiebig damit und kennt sich gut mit den ganzen Verzweigungen aus. Er ist es, der diesen Kosmos für uns zugänglich macht.“ So landet dann ein obskurer Chill-out-Tune wie „Heaven Tar“ von Flourish auf dem xx-eigenen Blog, wo die Band während der Aufnahmen zum neuen Album ihre Inspirationsquellen offenlegte. Während Jamie seine Minimal-Techno-Favoriten angab, listeten seine beiden Mitstreiter eher Indie-Mainstream-Namen auf. „Wir lieben Popmusik, wir lieben Sade“, verrät Romy, „wir sind definitiv von ihr beeinflusst – vom Tempo ihrer Songs, den Schattierungen ihrer Stimme … Wenn mein Friseur mich fragt, was ich für Musik mache, antworte ich immer nur ‚Pop‘!“ Und als sie vor zwei Jahren im Pulk vor der Bühne des Glastonbury-Festivals plötzlich Shakiras Version des xx-Songs „Islands“ hörte, war sie völlig aus dem Häuschen. Sie konnte ja nicht ahnen, dass junge Menschen beim diesjährigen Hurricane-Festival in Scheeßel Papptafeln mit Textzeilen aus ihrem Song in die Luft recken würden: „I am yours now/ so now I don’t ever have to leave.“

Olivers Beitrag zur bandeigenen Geschmackliste ist ein Track mit dem programmatischen Titel „Love Lost“ von der britischen Nu-Soul-Sängerin Shola Ama, die in den späten 90ern mit einer Randy-Crawford-Coverversion („You Might Need Somebody“) bekannt wurde. „Meine Schwester hat mich darauf gebracht. Ich konnte ihr ja nicht die Klamotten klauen, also habe ich mich an all ihre Schallplatten gehalten“, erzählt er. Ein anderer, wenig offensichtlicher Verweis geht noch weiter zurück in der Popgeschichte: „Silver Springs“, das ursprünglich für Fleetwood Macs Millionen-Album „Rumours“ komponiert wurde, aber auf der Originalveröffentlichung nicht enthalten war. „Der Song ist simpel und kompliziert zugleich, das gefällt uns“, sagt Romy. „Dass ich in Reviews hin und wieder mit Stevie Nicks verglichen werde, schmeichelt mir natürlich, ist aber doch viel zu hoch gegriffen.“

In diesem von der Band selbst inszenierten Verweisstrudel ist am Ende nur eins klar: The xx fühlen sich im Club- wie im Indie-Land zu Hause. Sie bewegen sich elegant und eloquent dazwischen, aber vor allem offen und neugierig wie Teenager. Sie sind wie ein … „Hybrid!“, ruft Oliver. Ja, sie sind ein Hybrid beider Welten.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Romy, Oliver und Jamie aus ihren Kinderzimmern ausgezogen sind. Statt bei den Eltern leben sie seit gut einem Jahr im gutbürgerlichen Londoner Stadtteil Islington. „Berühmtsein ist komisch für uns“, erzählt Jamie. „Im Tesco-Supermarkt lässt man uns aber immer noch in Ruhe.“

Drei Jahre zwischen der Veröffentlichung zweier Alben sind eine verdammt lange Zeit. Drei Jahre zwischen Spätpubertät und Jungerwachsensein vergehen jedoch wie im Zeitraffer. Für die drei Londoner Pop-Revolutionäre ging alles rasend schnell, fast zu schnell. „Wir mussten erst einmal, nachdem wir um die halbe Welt getourt sind, im Erwachsensein ankommen“, sagt Oliver, der in der Nähe von Stamford Bridge aufwuchs, dem Stadion von FC Chelsea, und seit dieser Zeit eine Aversion gegen große Menschenansammlungen hat. „Die Stücke für das erste Album haben wir mit 15, 16 Jahren geschrieben und mit 19 aufgenommen. Nun sind wir 23 und haben alles im Eiltempo nachgeholt.“

The xx machten das einzig Richtige: Sie traten auf die Bremse. Zu Weihnachten 2011 verschenkten sie über ihre Website den Song „Open Eyes“, der es schließlich, wie viele andere auch, nicht auf die finale Tracklist schaffte (noch 30 Jahre bis zur Jubiläums-Deluxe-Edition mit Bonusmaterial!), danach blieb die Tür zum Studio erst einmal für alle Außenstehenden geschlossen. Vier Monate lang. Die Songs für das lang erwartete zweite Album waren zwar eigentlich fertig, aber irgendwie doch noch nicht so weit. Den finalen Feinschliff übernahm Jamie. „An unsere Musik lassen wir auch in Zukunft niemand anderen“, verkündet die Band.

Eigentlich war die Veröffentlichung von „Coexist“ bereits im Frühling geplant, nun wurde es immer später – zuletzt war von Anfang September die Rede. Aber solche Verzögerungen sind relativ in einer von Guns N‘ Roses (15 Jahre Warten auf „Chinese Democracy“) präsidierten Verzögerungsrechnung.

„Ihr seid alle sehr geduldig mit uns“, entschuldigt sich Oliver Ende Juni hinter der Bühne beim Hurricane-Festival. Es ist 19.30 Uhr, die drei sollen um 20.45 Uhr auf die Bühne, nach ihnen kommen nur noch – und wie passend – The Cure. Sie sind nervös, wirken noch blasser als sonst schon. Neben den Songs ihres Debütalbums wollen sie auch einige neue spielen an diesem Abend vor fast 80.000 Menschen, die ganze Strophen mitsingen und die Singlehits euphorisch feiern. Die Nervosität der Band legt sich rasch, und während Romy und Oliver ihr neues Selbstvertrauen mit gelegentlichem Lächeln unterstreichen, verzieht Jamie weiterhin auf der Bühne keine Miene – einfach, weil er die Konzentration hochhalten muss, zwischen elektronischen Drumpads, MPCs und anderen Dingen aus dem Hightech-Wunderland. Was für die Erforschung musikalischer Strömungen gilt, trifft auch für das technische Know-how zu: „Jamie ist einfach ein Workaholic!“

Die neuen Songs, sie fügen sich wunderbar in ihr älteres Material ein und sind doch eine deutliche Weiterentwicklung. Trotz des ganzen Durcheinanders in ihrem Studio am Regent’s Canal ist offenbar keine gute Songidee verschusselt worden. The xx sind jetzt endgültig in der Zukunft angekommen. Was früher an The Cure erinnerte, ist heute in komplexe Dance-Hooks und angedeutete Housebeats gebettet. Was früher mit Post-New-Wave beschrieben werden konnte, kreuzt sich jetzt mit Post-Dubstep-Sounds. Und je mehr wir von „Coexist“ hören, desto deutlicher wird der große Schritt nach vorn. Ihr zweites Album könnte für The xx und den britischen Indie-Pop sein, was „Nevermind“ für Nirvana und den Alternative Rock war: Ein konzentriertes Umkrempeln, eine Neubestimmung, ein Anfang. Während das zunächst als erste Single geplante „Angels“ noch bruchlos an das Debütalbum anschließt, beginnt mit den folgenden Songs die Reise Richtung Clubland. Und die funktioniert hervorragend: Rhythmus, Emotion und Sound – alles bestens ausbalanciert.

An „Coexist“ wird sich alles messen müssen im Jahr 2012.

Und sollten sich Musikwissenschaftler einst daran setzen, einen Song zu finden, der wie kein anderer für 2012 steht – sie dürften bei „Chained“ fündig werden. Ein „Post-Dubstep-Stomper“, wie man noch keinen gehört hat. Knapp gefolgt vom souligen „Tides“, das im „NME“ bereits nach den ersten beiden Live-Aufführungen als „Track Of The Week“ ausgerufen wurde – bevor überhaupt ein Songtitel existierte. Der Seufzer „I can’t stop you leaving“, die Zeile „I can see it in your eyes/ some things have lost their meaning“ machen bereits seit Monaten die Runde und wurden bei xx-Fans zu geflügelten Worten.

Romy und Oliver hatten die Songs ursprünglich unabhängig voneinander geschrieben. Erste Ideen tauschten sie per E-Mail aus. Im Studio bemerkten sie dann, dass es auch in Teamarbeit funktioniert. Sehr gut sogar: Vier Songs – „Unfold“ und „Chained“, „Tides“ und „Our Song“ – entstanden auf diesem Weg. „Das wird zukünftig definitiv die Form unserer Zusammenarbeit sein. Außerdem haben wir uns im Studio gezwungen, immer noch ein wenig mehr daran zu arbeiten als eigentlich geplant.“ Weil sich eine Tür weiter eine Werbeagentur niedergelassen hatte, verbat sich allzu großer Lärm in den Tagesstunden. Während die in einer Garage eingespielte Debütplatte als „night album“ durchgeht (damals jobbten sie noch bei der Kaffeehauskette Costa und beim Klamottendealer Uniqlo) ist das neue Werk ein „dawn album“.

Mit gerade mal 23 Jahren praktizieren The xx kontrollierte Offensive. Ihr Status ist von „schüchtern, aber genial“ zu „selbstbewusst, ohne Größenwahn“ gewechselt. Romys und Olivers Wechselgesang klingt erwachsener, eindringlicher und dominanter. Und in „Reunion“ taucht auch Jamies heißgeliebte Steel Pan wieder auf. Dass er den karibischen Metallklangkörper perfekt bespielen kann, davon konnte man sich bei dem Hurricane-Auftritt überzeugen.

„Für das erste Album schrieb ich aus der Perspektive der Menschen in meiner Umgebung“, resümiert Oliver. „Schließlich war ich gerade mal 15 oder 16! Da traut man sich selbst nicht allzu viel zu. Das hat sich jetzt geändert.“ Die Aufnahmen zum düsteren „Missing“ wurden für Oliver fast zu einem traumatischen Erlebnis. „Er hat da so viel Emotion reingesteckt, dass es mir eiskalt über den Rücken lief“, erinnert sich Romy, deren Art Songs zu schreiben eine umgekehrte Entwicklung nahm: „Meine Songs auf dem Debüt waren sehr privat. Diesmal habe ich Beziehungen und Probleme anderer beobachtet und erst dann eine Verbindung zu meinem eigenen Leben hergestellt.“

„Coexist“ ist also eine Art Beziehungsarbeit? „Wir können dir ungefähr zwanzig verschiedene Interpretationen des Albumtitels geben, die alle zutreffen würden“, sagt Oliver. „Da wir es hier ja mit Liebesliedern zu tun haben, kann man den Zustand der Koexistenz auf die beiden Liebhaber oder Partner oder eben auch Ex-Liebhaber und Ex-Partner beziehen. Oder auf uns als Freunde und als Band. Nur zusammen konnten wir das fertigstellen, was wir jetzt veröffentlichen. Eine Zeitlang haben wir daran gedacht, das Wort ‚together‘ zu benutzen, aber dann kam Romy mit diesem Vorschlag. ‚Together‘ ist ein schönes Wort, aber vielleicht etwas zu süßlich für das, was wir ausdrücken wollten. ‚Coexist‘ ist barscher. Wenn man den Albumtitel in Verbindung mit dem Thema ‚Liebesbeziehungen‘ sieht, ist das doch ehrlicher und realistischer.“

Auch beim Zusammentreffen von Wasser und Öl lässt sich kein „together“ ausmachen. Romy fand die Farbfotografie für das mutmaßliche Albumcover: Eine Wasserpfütze, in die Öl tropft, verwandelt sich in eine in Regenbogenfarben schillernde Fläche. „Zwei Elemente, die aufeinandertreffen, sich nicht vermischen, aber etwas anderes ergeben, das fanden wir auch passend zu uns als Band.“

Es ist viel passiert, seit sich Romy und Oliver mit 16 auf MySpace angemeldet und ihren Bandnamen zum ersten Mal ausgedruckt und „ausgeschrieben“ angeschaut haben. Was kann nach dieser rasanten Entwicklung noch kommen? Wer schon den Mercury Prize gewonnen hat, wird jetzt höchstens noch von der Queen zum Ritter geschlagen. „Von der Frau, der alle Schwäne im Land gehören? Nein, ganz ehrlich: Wir sind total glücklich mit dem Zustand, wie er jetzt ist“, sagt Romy. „Unsere Situation ist einzigartig. Und auch wenn Jamie alles Mögliche nebenbei macht: Die Band ist unsere und seine wahre Erfüllung. Wir sind mit ganzer Seele dabei.“

Fundstück

Mehrfach hat der ROLLING STONE bisher über The XX berichtet. Ein Kurzporträt, ein Live-Bericht und eine Single-Rezension finden sich im Archiv. Kurios: das epochale Debüt wurde nur kurz besprochen.

Doebeling über The XX

Hochspannung mit minimalistischen Mitteln, so subtil wie subversiv: Das Londoner Quartett kontrastiert leise, entrückte Stimmen mit tiefergelegten Frequenzen, die Gitarre skeletiert und verloren wie in „A Forest“ von The Cure, die Harmonies von Romy und Oliver nicely out of tune. Und auf der Flipside lässt man diese untergründige Dialektik „Hot Like Fire“ angedeihen, einem Song, dessen Originalaufnahme von Aaliyah auch, aber ganz anders zu verzücken wusste.

(aus ROLLING STONE 07/09)

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