Dominik Graf – Die sanfte Macht der Lawine

Seit 30 Jahren ist Dominik Graf einer der besten deutschen Regisseure. Zu seinem 60. Geburtstag sind zwei Dokumentarfilme zu sehen. Eine geheime Geschichte des deutschen Kinos

Ein Frühsommertag. Ein alter Mann erinnert sich an einen anderen Frühsommertag, vor fast 70 Jahren: Freibad, Umkleidekabinen, das Licht, das das Nachmittagswasser bernsteingelb färbt und ein Mädchen im roten Badeanzug, ihre Schritte am Sprungturm vorbei, zum Gebüsch, aus dem Jazzmusik zu hören ist, mitten in Deutschland 1944, im letzten Sommer des Krieges. Man sieht das in grobkörnigen Super-8-Aufnahmen mit ihren warmen Farben, und in den Augen des alten Mannes, der es erzählt und zeichnet, wo er gewesen ist, als 15-Jähriger im Wasser. Dazwischen SchwarzWeiß-Bilder, dazwischen Zeichnungen.

Später sieht man andere Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ein Betriebsausflug fröhlich-feister Nazis, und eine Frau an einem mittelalterlichen Pranger, mit Halseisen gefesselt – nicht im Mittelalter, sondern irgendwann im Dritten Reich, auf dem Marktplatz von Schwäbisch-Hall, öffentlich vor einer Menschenmenge zur Schau gestellt und drangsaliert, schließlich demütigend kahlgeschoren.

Zwei eindringliche, intensive Momente, die die Fallhöhe zeigen, den Abgrund, in den diese „Lawinen der Erinnerung“ hinabstürzen. So heißt der dritte Dokumentarfilm von Dominik Graf, der bei der Berlinale Premiere hatte, und jetzt am 19. September auf Arte zu sehen ist, fast pünktlich zum Geburtstag des Münchner Regisseurs, der am 6. September 60 Jahre alt wird. In „Lawinen der Erinnerung“ porträtiert Graf den Regisseur, Schriftsteller und Produzenten Oliver Storz, der zu den bedeutendsten Autoren der großen Zeit des deutschen Fernsehens gehört – und viel mehr ist als der Erfinder der „Raumpatrouille Orion“, die Storz nie gemocht hat, obwohl er mit ihr in den 60er-Jahren ewigen Pop-Ruhm erntete.

Graf lernte Storz erst kurz vor dessen Tod im Juli 2011 kennen, traf ihn für zwei längere Interviews. Anhand von Storz‘ autobiografischem Roman „Die Freibadclique“ entfaltet Graf eine faszinierende unerzählte geheime Geschichte des deutschen (Fernseh-)Films und der Generation, die direkt nach dem Krieg Deutschland neu erfand – diese „Zeit ohne Väter“ (Storz) während der ersten Nachkriegsjahre, so macht Graf im Film klar, war „unbedingt die beste Zeit in Oliver Storz‘ Leben. Aber vielleicht auch die beste Zeit, die Deutschland je erlebt hat.“

Beim Lesen der „Freibadclique“, so Graf, habe er das Gefühl gehabt, „einer anderen deutschen Geschichte gegenüberzustehen, überraschend und relativ widerspenstig, und sehr subjektiv, aber auch repräsentativ für einen ganzen Teil der Ende der 20er-Jahre geborenen Deutschen.“ Über das Jahr 1945 hinaus zeigt der Film dann, wie Storz einige autobiografische Urerlebnisse in seinen Filmen und Büchern verarbeitete. Und wenn es keinen anderen Grund gäbe, sich „Lawinen der Erinnerung“ anzusehen, dann den, dass dieser vermutlich nie auf DVD erhältlich sein wird – zu schwer sind die Rechte für die Ausschnitte aus alten Fernseharchiven zu bekommen.

„Ich habe als schlechter handwerklicher Regisseur angefangen und habe die meiste Zeit damit verbracht, ein besserer handwerklicher Regisseur zu werden.“ – Im Gespräch stapelt Graf gern tief. „Die Themen, die ich mir ausgesucht habe, die haben oft mehr mich ausgesucht, als ich sie. Ich bin abhängig von meinen Drehbuchautoren – die haben vielleicht wirklich was zu sagen.“ Aber das, was sie zu sagen haben über Deutschland oder den Zustand der Gesellschaft, sei doch nicht das, was ihn an diese Filme wirklich bindet: „Es sind dann immer doch eher die entscheidenden Szenen und Momente, die Figuren, die mir schon beim Lesen des Drehbuchs Spaß machen, sie zu inszenieren, die mich zu einem Film überreden.“

Seine Dokumentarfilme nennt er „Sidekicks“. „Im Fall Oliver Storz ist es ja dieser Mann – der ist in gewissem Sinn mein Drehbuchautor; er hat mich in seinen Kosmos reingezogen und es war meine Aufgabe, das zu protokollieren.“

Auch wenn Graf den Anspruch des Autorenfilms von sich weist, gerade mit dessen deutscher Variante so seine Probleme hat, und lieber das „Genrekino“ beschwört, ist eigentlich jeder Dominik-Graf-Film sehr persönlich. Das hat nicht allein damit zu tun, dass Graf die Kommentarstimme seiner Dokumentarfilme selber spricht – „liegt wahrscheinlich daran, dass ich mal mit zwölf Jahren Münchner Vorlesemeister war“. Seine Filme sind immer geprägt von einer erkennbaren Graf-Handschrift und einem Bekenntnis zum Ich. Er habe zwar schon mehr als einen seiner Filme mit einer gewissen Distanz begonnen, sagt er, „es ist mir aber nicht gegeben, diese Distanz während eines Arbeitsprozesses zu behalten. Es saugt mich früher oder später komplett hinein, auch mit meinen Fehlern.“

„Lawinen der Erinnerung“ führt auch zurück zu Grafs allererstem Dokumentarfilm, den er 1996 gemeinsam mit dem vor einem Jahr verstorbenen Filmkritiker Michael Althen gedreht hat, und der soeben erstmals auf DVD erschienen ist: „Das Wispern im Berg der Dinge“ handelt von Grafs Kindheit und Herkunft, und erzählt die Geschichte seines früh verstorbenen Vaters, des Schauspielers Robert Graf. Da schließt sich der Kreis – nicht, weil alles auch wieder von der deutschen Filmgeschichte handelt, dem Erinnerungsraum, zu dem Graf immer wieder ein Verhältnis und in dem er immer wieder seinen eigenen Platz gesucht hat, sondern weil Oliver Storz hier auch als eine Art Stellvertreter für Grafs Vater fungiert: „Es ist klar, dass mir da jemand begegnet ist, der mir Fragen beantworten konnte, die mir mein Vater nicht beantworten konnte.“

Aber es geht auch um Grundsätzlicheres: das gestörte Verhältnis von den Vätern zu den Söhnen, um das gestörte Verhältnis von Männern zu ihren Gefühlen, um deutsche Männlichkeit im 20.Jahrhundert überhaupt. „Diese Generation von Storz und meinem Vater hatte es sehr schwer, die Gefühle in sich zu vermitteln, weiterzugeben und spüren zu lassen. Es gab eine tiefe Unfähigkeit, Gefühl auszudrücken.“ Das habe allerdings zwei Seiten: „Diese Größe, mit Gefühlen alleine zu sein, und Leiden mit sich auszumachen, das ist etwas, was mich ehrlich gesagt an dieser Generation auch fasziniert. Daraus ist auch eine Größe an Literatur, Filmen, Musik hervorgegangen – der ganze Existenzialismus ist undenkbar ohne dieses Alleingelassensein, wo man in ein schwarzes All geworfen wurde. Von dieser Einsamkeit haben wir keine Ahnung mehr. Wenn man darin etwas Unangenehmes sieht, dann geht mit dieser Zurückgezogenheit und Distanz auch etwas anderes verloren, was sehr kreativ ist.“

Seit bald 30 Jahren gilt der 1952 geborene Graf als einer der besten deutschen Regisseure. Filmisch war er seiner Zeit oft voraus. Schauspieler, die einmal mit ihm zusammengearbeitet haben, berichten nur Gutes, manchen Produzenten hingegen gilt Graf, der akribisch, auch in den scheinbar unwesentlichsten Dingen sorgfältig und eben kompromisslos um Qualität bemüht ist, als zu teuer. Obwohl Graf viele Preise gewonnen hat und jährlich mindestens einen Film dreht, ist er seltsam unbekannt in einem Land, das gegenwärtig mit guten Regisseuren immer noch allzu rar bestückt ist.

Es gehört dabei zu Grafs größeren Tugenden, dass es gelingt, auch noch das scheinbar konventionellste Format, Folgen von Krimi-Reihen wie „Tatort“, „Sperling“ oder „Polizeiruf“ etwa, die man sämtlich auch nicht unterschätzen sollte, nicht nur zu Höhepunkten ihrer Möglichkeiten zu führen, sondern aus ihnen immer richtige Dominik-Graf-Filme zu machen, die in Stil, Erzählweise und Geschichten von dem geprägt sind, was für diesen Regisseur typisch ist.

Immer wieder, und in der letzten Zeit noch ein bisschen verstärkt, begibt sich Graf auf die Suche nach der verlorenen Zeit, die für ihn auch immer eine nach der verlorenen Unschuld ist. Zuletzt und genau genommen schon eine ganze Weile erzählt er Geschichten über Jugend und von jungen Leuten, von ihrem Traum vom Leben, über den Abschied von etwas, was man sich zu behalten oder wiederzugewinnen sehnt. In „Der Rote Kakadu“ ist das so offensichtlich wie in „Die Freunde der Freunde“, einer in die Gegenwart verpflanzten Henry-James-Adaption, wie in „Kalter Frühling“, in dem eine Tochter aus gutem, sprich: reichem Hause aus dem goldenen Käfig ausbricht, um sich zu finden, und dabei hinter alle Fassaden ihres Milieus blickt. Wie schon in „Bittere Unschuld“, einer der eher unterschätzten unter Grafs Fernseharbeiten, von einer präzise beobachteten, also nicht hinzugedichteten, sondern vorgefundenen Abgründigkeit, die man nur mit David Lynch vergleichen kann: verlogene, feige Eltern, eine ruinierte Ehe, und eine 15-Jährige, die Eva heißt, und sich, als nichts mehr zu retten ist, zu einem anderen, einsamen Mädchen flüchtet, deren Vergewaltigung Evas Vater nicht verhindert hat. Diese Verbindung aus kühler Milieuschilderung und heißer Sehnsucht umkreiste auch „Der Felsen“, Grafs vorletzten Kinofilm, der vor zehn Jahren im Wettbewerb der Berlinale lief.

Nur wenige machen – so wie Dominik Graf es tut – sich selbst und die Frage nach dem richtigen Filmemachen zum Thema. In der Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft zum Genre, den Schwierigkeiten, die sie mit Politthrillern, Horrormovies und anderen B-Formen hat, beobachtet Graf auch eine Restauration und ganz unangemessene Aufwertung konservativer Werte und schildert dies in Filmen wie Interviews, aber vor allem in Zeitungsartikeln. „Je toter die Landschaft um einen herum ist, desto leidenschaftlicher und entgrenzter könnten ja als Kontrast unsere Filme wieder werden“, hat er mal geschrieben. Dass unter der Oberfläche derzeit die Geheimnisse und (Lebens-)Lügen wieder zunehmen, ist daher zumindest für den Filmemacher Dominik Graf eine Hoffnung. Trotzdem ist die Lage des deutschen Kinos nicht gut, und darum liest Graf seinen Kollegen gelegentlich die Leviten. Pünktlich zur Verleihung des Filmpreises wetterte er auf einer ganzen Seite in der „Zeit“ gegen die deutsche Tendenz zum „Thesenfilm“.

„Wenn die jährliche Akademiekiste ins Haus kommt, ist 70, 80 Prozent voll mit Filmen, die, glaube ich, sehr ähnlich wirken. Es fehlt die Art von Filmen, die zum Kino auch gehört, die den Jahrmarktswunsch befriedigt nach extremer Unterhaltung, aggressiver Comedy, nach Schauwerten, nach Freude. Das Thema war, dass sich das Trivialitätsaufkommen im deutschen Kino drastisch verringert, und man jagt eine gewisse Klientel von Hause aus weg. Ist das der Preis von Filmförderung und Filmhochschulen?“

Graf kann eloquent, klug und mit der nötigen Provokationsgabe über „das Elend der subventionierten Industrie“ reden, oder über das „System Kapitalismus“ und die „Schere in den Köpfen“, vor allem aber über ein Kino, das immer „spröder“ und „bröseliger“ wird, und „theorielastig“ und „thesenlastig“.

Grafs Filme handeln vom Verhältnis der Fantasie zur Wirklichkeit. Denn beide sind keine Gegensätze. Manchmal, das wissen vor allem die Filme von Dominik Graf, sind die Fantasie und die fantasierte Erinnerung genauer als die Wirklichkeit. Und so wird er weiter Filme machen, die das Gegenteil sind vom deutschen Mainstream. Wir freuen uns schon darauf.

Grafs Dokumentation über seinen Vater Robert, „Das Wispern im Berg der Dinge“, erscheint am 30. September bei absolut Medien auf DVD. „Lawinen der Erinnerung – Oliver Storz“ ist am 19. September auf Arte zu sehen.

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