Tischgebet in Hendersonville

Gunter Gabriel erinnert sich an seine Begegnungen mit dem Meister - anlässlich der Veröffentlichung von "Auf Kurs: Die-Johnny-Cash-Biographie" von Bettina Greve im Rahmen unserer Hörbuch-Reihe

Es war 1980. Wir saßen im Esszimmer seiner Villa in Hendersonville am Cumberland Lake – nicht weit entfernt von Nashville. Johnny Cashs Eltern waren da, seine Tochter Rosanne,June Carters TochterCarlene, Bob Wootton, sein Gitarrist mit seiner Frau Anita, der Schwester von June. Und ich als Ehrengast aus good old Germany, der sich gerade in Deutschland zum Country-Sänger gemausert hatte – übrigens mit einem Song, den ich Johnny sozusagen geklaut hatte.

Na ja, sagen wir mal, ziemlich frei übernommen hatte: „Wanted Man“ – von Bob Dylan geschrieben, auf Cashs „San Quentin“ erschienen – mutiert bei mir zu „Ich werd gesucht in Bremerhaven“. Und kam durch die damalige „ZDF-Hitparade“ von Dieter Thomas Heck zum ersten Erfolg. Der Song war mir übrigens von Ricky Shane – damals enfant terrible und Pop-Rocker („Ich sprenge alle Ketten“) – empfohlen worden bei einer feuchtfröhlichen Saufnacht im Schweizer Hof-Sammelbecken-Hotel nach einer TV-Sendung. „Brother, you must play this song!“ Und dann holte er aus seinem zerbeulten Cadillac seine Gitarre und sang mir den Song vor, den ich natürlich kannte. Immer wieder sang er ihn mir vor, die ganze Nacht – er vollgedröhnt mit seinen Hasch-Zigaretten, und ich voll mit Whisky.

Und dann fuhr ich nach Hause und drehte am nächsten Morgen am Song und machte daraus meinen ersten akzeptablen Hit.Und wollte Johnny Cash, diesen „böse Buben“ kennenlernen, weil er davon gehört hatte: Da ist einer, der spurt auf deinen Gleisen. Her mit dem Kerl!

Und nun saß ich also an diesem Tisch, dem Mann gegenüber, den ich von seinen Platten und von Artikeln über ihn in- und auswendig kannte.Die Southern Chicken wurden von schwarzen Bediensteten mit weißen Handschuhen serviert. Olala, dachte ich, verdammter Stil. Hätt ich nicht gedacht. Überhaupt, dass Johnny so lebte – ein Haus vollgestopft mit Antiquitäten, halb Frankreich war verteilt in diversen Zimmern -, hätte ich nicht gedacht. Der Duft der gebratenen Chicken stieg mir in die Nase. Ich hatte Hunger, es war schon 15 Uhr vorbei. Und ich hatte noch nichts gegessen. June stand neben mir auf am Stirnende des langen Tisches; auf der anderen Seite – unbeweglich – der Meister. Und June betete. Johnny, in sich gekehrt, verzog keine Miene. June war die geborene Predigerin. Faszinierend.

Himmel! Mein Hunger. Und June kam vom Hölzken zum Klötzken, es nahm kein Ende, dieses Gebet – ich verstand meistens nur Bahnhof. Mein Englisch ist bis heute noch eine Katastrophe. Ich weiß nur noch, dass Chruschtschow, Kennedy, Castro und ich – unvorstellbar! – irgendwie in einen geheimnisvollen Mixer eingebracht wurden. Das fehlende Wasser im Senegal, die hungernden Kinder von Bangladesh – und zurück zur Gospel- und Country-Music, zurück zum Musikleben in Nashville und zurück zum Frieden in der Welt. Mein Gott, dachte ich noch, was für Sprünge, was für Zusammenhänge, welche Wortgewalt! June Carter, Johnnys Dynamo.

Ich sage nur: Ich war am Ziel all meiner damaligen Träume. Und ich weiß nicht mehr, was mich mehr durcheinandergebracht hat: der Duft der Brathendl oder June oder Johnny. Es war einfach unglaublich, traumatisch und großartig. Jedenfalls entstand dadurch eine lockere Freundschaft bis hin zu jener letzten Session kurz vor Cashs Tod. Wann immer Johnny in Deutschland tourte – June rief mich an: Komm zu uns ins Hotel! Komm auf die Bühne! Komm, bete mit uns. Es waren große, bewegende Momente, wenn ich mit Johnny auf der Bühne durch ein Mikrofon sang. Es war einfach der Hammer.

Im Sommer 2003 sah ich Cash noch einmal wieder. Dieser einst so stolze, starke Mann – was war aus ihm geworden! Diese 190 Zentimeter, diese 110 Kilo, diese schwarzen Haare und dieser Blues in seiner Stimme, diese großartige Aura-sein Charisma! Mir schossen die Tränen in die Augen; ich kniete vor der Tür seines Benz, und ich fasste seine Hand. Und mir war klar: Dieser Mann, in den letzten Tagen seines Lebens – er war reich! Was für ein Leben hatte er gelebt!

Ich wollte nicht erkennen lassen, wie ergriffen ich von seinem maladen Gesamtbild war. So reichte ich ihm den gläsernen Bierkrug aus Landsberg mit dem roten Kreuz als Wappen und dem silbernen Bierdeckel. Landsberg! Und er sagte: „My first Step in Germany!“ Hier war er Mitte der 50er Jahre als Soldat stationiert, hier spielte er im Hotel Goggl. Er musste lachen. „Ich werde diesen Krug auf meinen Schreibtisch stellen und Bleistifte hineintun!“ Das werde ich nie vergessen. Dann schob Johnny seine Geh-Hilfe vor sich her, hinaus auf die Veranda. Andy, der Assistent, und John Carter fassten ihn unter die Oberschenkel und trugen ihn die wenigen Stufen zu seinem Wagen.

Ich sah weg. Dann setzte ich mich auf den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, und nahm seine Gitarre zur Hand. Auf dem Griffbrett war mit Perlmutt sein Name eingelegt: Johnny Cash. Und jetzt denke ich zurück an diesen Tag, denn er ist auch ein Trost.

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