Vor 15 Jahren starb LESTER BANGS.

Er war der erste wahre Rock'n'Roll-Writer, denn sein Credo lautete: Es gibt keine guten oder schlechten Platten, nur langweilige!

Es war recht eng im BelAge Hotel von L. A., im Mai 1995. Musikkritiker aus mehreren Erdteilen traten sich auf die Füße, um die Vergabe der „First Annual Musicjournalism Awards“ zu bestaunen. Aber trotz des Gedränges war jedem bewußt, daß man nur Schattenboxern gleich um eine Lücke herumtänzelte. Denn der Mann, der sie hätte füllen können, war nicht da – und doch fiel sein Name öfter als jeder andere.

Irgendwann wurde es Lorraine Ali von der „L. A. Times“ zu bunt, und sie bezeichnete Lester Bangs als einen „Sexisten und Rassisten“. Fast wäre ein Tumult ausgebrochen. Ironischerweise beklagte Ali kurz darauf, daß nur weiße Männer über 40 lukrative Aufträge bekämen – wo doch gerade Lester sich aus dem Staub machte, bevor er zu alt wurde.

Lester Bangs starb vor 15 Jahren. Dabei könnte die Vifelt einen wie ihn gut gebrauchen. Er hätte schon Platz geschaffen im BelAge. Hätte mit ausgefahrenen Ellenbogen, dem Heiligen Gral in der einen Hand und einem Unzurechnungsfähigkeits-Zertifikat in der anderen, seine Meinung zum Stand der Dinge dargelegt…

Das Schreiben über Rockmusik ist in einem bedenklichen Zustand. Fast könnte man Mitleid haben mit diesem zerlumpten Kerl, der vor der Haustür lungert und einem von den Zeiten vorschwafelt, in der er soviele Mädchen und Drogen haben konnte, wie seine Pumpe mitmachte. Fast könnte man seinen Kollegen, den Sozialwissenschaftler, erheiternd finden. Denn der stört die Nachbarn nicht, bleibt immer auf dem Gehweg und schenkt den Kindern Süßigkeiten.

Zur Zeit findet die Musik auf Papier meist dann statt, wenn Schwafler sie dazu benutzen, sich vor ihren drei Bekannten dicke zu tun. In stilistisch hoffnungslosen Nebensätzen dritter Ordnung wird nach einem klebrigen Schwamm gesucht, der sich Diskurs nennt – und dabei wird nicht bloß die Syntax, sondern auch jeder Spaß zu Grabe getragen. Und das ist noch nicht der Tiefpunkt, denn kein ausreichend zynisches Adjektiv will einem einfallen, sieht man sich all jene Leuten an, deren Gehirn auf direkte Weise mit den Registrierkassen der großen Konzerne verbunden sein muß.

Mit wem oder was aber war Lester Bangs‘ Gehirn verbunden? Der einzige, der das beantworten könnte, ist tot; und er scheint sein Universum mit sich genommen zu haben. Denn offensichtlich bewohnte Lester Bangs eine ganz eigene Welt, in der Regeln herrschten, die nur er durchschaute. Und bevölkert wurde sein Universum von den merkwürdigsten Kreaturen – von Genies, die sich für Spinner hielten, und von Spinnern, die vielleicht doch Genies waren. Anders gesagt: Bangs war wahnsinnig.

Leslie Conway Bangs wird am 14. Dezember 1948 in einer Kleinstadt bei San Diego geboren; und um eine alte Diskussion gleich im Vorweg zu beenden: Er heißt wirklich so.

Lester findet sich in einer zwar nicht kaputten, aber doch merkwürdigen Familie wieder. Seine Mutter ist fast 50, ab sie ihn zur Welt bringt, und bevor ihr Sohn sieben Jahre alt ist, tritt sie den Zeugen Jehowas bei. Der Anlaß dafür ist so unglücklich wie der Akt selbst: Wenige Wochen zuvor war Lesters Vater mit brennender Zigarette im Bett eingeschlafen – und nicht wieder aufgewacht Vielleicht sollte die rigide Menschenführung der Religionsgemeinschaft dem jungen Lester den Vater ersetzen, Bangs aber scherte sich einen Dreck um die Kirche: Mitte der Sechziger holt er sich von einer mexikanischen Prostituierten etwas Unangenehmes, und die Jehowianer werfen ihn hinaus. Für beide Seiten die sauberste Lösung, denn Bangs war auf der High School zum führenden Beatnik San Diegos mutiert und begeistert sich an Creative Writing/ Drama-Kursen. Seine Welt dreht sich um Kerouac und Burroughs, um Jazz und frühe britische R&B-Bands nicht um das Ende der Welt.

Als in San Francisco 1966/’67 die Haare länger werden, reagiert Bangs erstaunlich zurückhaltend. Am Drogen-Rock der Westküste interessiert ihn nur das Präfix; Er teilt zwar die Chemikalien, nicht aber die Musik mit den Hippies. Als Jazz-Fan ist er ständig mit einem Ohr in den Kellern New Yorks und erwartet die Revolution von dort. Wirklich subversiv ist nur die Avantgarde der Ostküste, in Kalifornien braucht man schon Drogen, um Strand und Sonne vergesen zu können. Die Bestätigung dieser These sieht Bangs in den Velvet Underground, und sein Leben lang wird ihm diese Fixierung auf Lou Reed zu schaffen machen.

Es ist ’69, und Leslie verkauft Damenschuhe. Nach Ladenschluß sitzt er in seinem Zimmer, hört Platten, die niemand sonst kennt, nimmt Drogen, die niemand sonst anrühren würde, und schreibt Texte, die niemand lesen will. Eines Tages fallt ihm ein Artikel im ROLLING STONE auf, in dem eine neue Band aus Detroit als Bote des Umsturzes gefeiert wird. Bangs zählt die Stunden, bis ihr erstes Album in den Läden ist, und erwartet eine Eruption biblischen Ausmaßes.

Aber das Debüt der MC5 ist nicht das, als was man es Lester verkauft hat. Er schickt einen zornigen Text an das Blatt, und zu seiner Überraschung wird sein Review gedruckt. Er zögert nicht, diese Chance wahrzunehmen: Fortan treffen jeden Monat mehr als zehn Beiträge von ihm bei dem Magazin ein. Greil Marcus, für LP-Besprechungen verantwortlich, ist fasziniert und wird zu Lesters Förderer. Der legt seine anfangliche Zurückhaltung ab und beginnt, die Grenzen des bis dahin Schreib- und Druckbaren anzugreifen. Alles, was ihn innerlich berührt, lobt er in den Hirnmel; alles, was ihm unehrlich oder schlicht langweilig erscheint, wünscht er ins Fegefeuer. Er kennt kein Mittelmaß, nicht einmal einen Maßstab außer seinem eigenen – und der ist instabil genug. (In typischer Bangs-Manier wurde er später ein guter Freund von Rob Tyner und eifriger Anwalt der MC5.) Seiner hypnotischen Rhetorik ordnet sich alles unter, und selbst die lautesten Löcher in seinen Argumentationen weiß er durch Wortketten zu stopfen. – Ein Bangs-Artikel wird nicht gelesen, er trifft einen. Am härtesten trifft es in diesen ersten Jahren die Lieblinge der anderen Kritiker: Lesters legendärer Verriß einer It’s A Beautiful Day-LP bringt ihm die Feindschaft des damaligen CBS-Chefs Clive Davis ein; sein ebenso berühmter Artikel James Taylor Marked For Death“ erscheint 1970 in „Who Put The Bomp“, und es soll gar Leute geben, die ihn gerahmt an der Wand hängen haben.

Was schrieb Bangs, und worüber schrieb er? Niemand hat diese Frage je schlüssig beantworten können, und die Suche nach der Antwort macht einen guten Teil der Faszination seiner Texte aus. Für Bangs gab es keine Regeln – schon gar keine grammatikalischen. Er hätte in der griechischen Mythologie so zu Hause sein können wie bei Bukowski. Er tauchte mit „Abba“und „Detroit Sucks“-T-Shirts auf feinsten Parties auf, obwohl er die Schweden verachtete und die Stooges liebte – mal ganz zu schweigen davon, daß eine Party nicht mehr fein war, sobald Lester Bangs die Tür durchschritten hatte.

Doch trotz seiner Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere, gibt es niemanden, der ihn kannte und nicht bestätigt, daß er ein guter Mensch war. Oder wenigstens ein Mensch, der stets an das Gute glaubte.

Deshalb fand Bangs es nicht unverantwortlich, derb und vernichtend zu urteilen. Im Gegenteil: War James Taylor für die meisten nur ein langweiliger Musiker, so war er für Bangs ein Verbrecher, dessen unbewußtes Ziel es war, die Schafe der Welt zufrieden zu halten. Bangs glaubte an die Größe im Einfachen, sah im Prätentiösen nur das Banale – und wußte wahrscheinlich selbst nie, ob das nun ein Widerspruch oder nur das Leben wat 1971 geht Bangs nach Detroit und wird dort Redakteur bei „Creem“. Zwei Jahre später endet seine RS-Karriere, als er eine Canned Heat-Platte massakriert und die Einzelteile in seine Kühltruhe stopft. Clive Davis hat genug, und Lester wird wegen mangelnden Respekts gegenüber Künstlern vom ROLLING STONE verbannt. 1976 kommt dann endlich die Revolution, auf die Bangs gewartet hat – allerdings nicht aus New York, sondern aus London. Die englischen Punks tun das, was ihnen die New brk Dolls und Richard Hell vorgemacht haben, mit dem einem Unterschied: Sie haben Erfolg. Bangs desertiert „Creem“ und eilt nun an die Ostküste, um als freier Autor für alles, was gedruckt wird, von den Wundern dieser Welt zu berichten.

New York scheint Lester Bangs den Rest zu geben. Er kann nur für sich allein oder gleich für die gesamte Menschheit Verantwortung tragen und nun ist er in der Stadt, in der solch radikale Positionen zum alltäglichen Irrsinn gehören. Bangs lebt genau das romantische Desaster aus, das für viele Melancholiker den Mythos des Rockschreibers ausmacht: Halb besinnungslos, halb erleuchtet hackt er nachts endlose Artikel in seine Schreibmaschine; die Tage verbringt er im Bett oder mit irgendwelchen Pharmazeuten. Er trifft Joey Ramones Bruder Mickey, und die zwei gründen die Band Birdland. Eine Single erscheint 79, aber die Masterbänder der im selben Jahr aufgenommen LP bleiben bis 1983 verschollen. Zu Beginn der 80er Jahre ist Lester Bangs auf dem Höhepunkt seiner destruktiven Phase. Er macht ein wenig Geld mit einer heruntergetippten Blondie-Biographie und verpraßt es bei einem Besuch in Austin der nicht nur seine Jook Sarages u -LP hervorbringt, sondern auch ein selbst in Texas bis dahin nicht gekanntes Massenbesäufnis. Kurz gesagt, Lester ist so gut wie tot. Seine Freunde legen auf, wenn er ihnen telefonisch krude Theorien vorbrabbelt; seine Feinde künden vom nahen, nicht unerwarteten Ende des spinnerten Asozialen. Doch die Erbsenzähler haben sich verrechnet. So als sei es nur eine Frage guter Nerven, wirft sich Bangs im letzten Moment selbst den Rettungsring zu. Er tritt den Anonymen Alkoholikern bei; doch trotz aller Tragik ist es ein Genuß, sich eine Gruppentherapie-Sitzung mit Lester vorzustellen…

Aber der Teufel läßt den Seinen wenig Zeit zur Besinnung: Der Neubeginn ist überschattet vom Tod der von Lester innig geliebten Mutter.

Das Jahr ’82 scheint eine Menge bereit zu halten: Bangs arbeitet an dem Roman-Fragment „All My Friends Are Hermits“ (auch als „Rock Gomorrah“ bekannt). Es ist als Antwort auf Kenneth Angers „Hollywood Babylon“ geplant Die Antwort bleibt Gary Hermans Buch vorbehalten, denn eine Erkältung schafft das, was zwei Jahrzehnte gelebten Wahnsinns nicht vermochten: Bangs bekämpft sein Unwohlsein mit den falschen Medikamenten und stirbt am 30. ApriL Lester Bangs war großspurig und furchtlos. Fade Kategorien wie Gut und Schlecht waren nichts für ihn. Wahr oder Falsch – Aufregend oder Langweilig: Darum ging es. Und was heute gut und aufregend ist, kann morgen schlecht und langweilig sein; es ist also feige, dumm und völlig sinnlos, Dinge in Schemata zu pressen: Das Leben folgt keinem Plan, und eine Platte schon gar nicht Sie ist nur da. Man läßt sich in sie hineinfallen, und manchmal kommt man mit einer Fackel wieder hoch. Manchmal auch mit dem Skalp James Taylors.

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