Vor langer Zeit gingen TOCOTRONIC ins Studio, heraus kam jetzt „“Tocotronic“. Eine Verwandlung

„Ja. Das ist Jetzt/ Der einzige Zweck/ Alles/ Um uns herum ist weg“. So beginnt „This Boy Is Tbcotronic“, der erste Song vom neuen Tocotronic-Album „Tocotronic“. Klingt so, als müsse die Band sich ihrer selbst vergewissern. Kein Wunder, denn es ist wirklich alles weg – alles zumindest, was bisher für Hamburger Musterschüler charakteristisch war. Keine sloganhaften Gharrenschrumrnelsongs mehr, stattdessen: Wie wir den Pop entdeckten und einige Anmerkungen zu Science Fiction.

„Wir waren einzigartig. Jetzt müssen wir erst wieder lernen, einzigartig zu sein“, kommentierte Robert Forster einstmals die Wandlung der Go-Betweens von der ungewöhlichen Dreier-Besetzung zur klassischen Rockband mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug. In gewisser Weise trifft dieser Spruch auch auf Tocotronic zu. Es war Zeit für eine Veränderung, bestätigt Sänger und Texter Dirk von Lowtzow, für Promoaufnahmen in einem Hamburger Fotostudio sitzend. „Es wäre uns ein Greuel gewesen, das gilt auch schon für die letzte Platte ,K.0.0.K.‘, uns zu wiederholen, so dienstleisterisch bestimmte Bedürfnisse nach Identifikation oder einem einfachen und sehr direkten Verständnis zu bedienen. Eine Band verliert ihre Einzigartigkeit auch dadurch, dass sie bereits in einem Historisierungsprozess begriffen ist, das heißt, dass Stücke von uns zitiert oder zum Beispiel als Zeitungsüberschriften verwendet werden. Als die ersten Sachen entstanden, war das alles noch total einzigartig. Wir hatten wirklich nicht damit gerechnet, dass wir so verstanden werden. Das waren bei der ersten Platte, ,Digital ist besser‘, ja schon ausschließlich Privatcodes und Insider-Gags von uns. Da musste man jetzt zum neuen Album durch die Themenauswahl schon wieder einen Weg finden, eine solche Einzigartigkeit zu erlangen.“

Die Texte der ersten Alben waren noch sehr ans alltägliche Erleben gekoppelt, waren quasi Schnappschüsse, die sich durch die Polaroidfotos im Booklet und die schnelle Aufnahme und Veröffentlichung auch im Produktionsprozess niederschlugen.

„Wir sind immer von Fixpunkten des Alltäglichen ausgegangen, von geografisch bestimmbaren Orten oder Dingen, die jeder kennt: Imbiss-Stand, Kneipe an der Ecke oder so. Irgendwann hatten wir das Gefühl, dass wir dieses fast schon topografisch absteckbare Terrain verlassen und zu neuen Dimensionen aufbrechen müssen. Das hat das Raumschiff auf dem ,K.O.O.K‘-Cover ja schon angedeutet, es geht jetzt weg von der indisch bestimmbaren Welt zu etwas Mehrdimensionalem.“

Die Mehrdimensionalität und Aufgabe des Alltäglichen geht auf textlieher Ebene verständlicher Weise zu Lasten der Direktheit So stehen Metaphern des Visuellen und Topografischen neben ganz klar von Science Fiction und Fantasy geprägten Bildern.

„Man muss über die Zeit hinweg wohl einfach Begriffe finden, die einem dann auch so ’ne Gänsehaut verschaffen wie die, die man früher benutzt hat. Diese ,dunklen Mächte‘, von denen ich singe, das fallt ja in den Bereich der Verschwörungstheorie, das ist schon ein bisschen so’n Evergreen. Das ist für uns dann eine ganz elegante Art, auch ein politisches Element in die Platte hineinzubringen. So kann man Begriffe wie Staat oder so vermeiden und eher eine bildliche, ein bisschen schillerndere Sprache für diese Vorgänge finden. Die Frage war: Wie kann man das Fantasy-Element zurücknehmen und in einen Zusammenhang stellen, der trotzdem gesellschaftskritisch und politisch relevant ist? Das, finde ich, ist auch die große Leistung von Negri und Hardt, die einen Begriff wie Empire, der für uns ja vor allem mit ,Star Wars‘ verbunden ist, anders aufgeladen haben.“

Antonio Negri und Michael Hardt analysieren in ihrem kapitalismuskritischen Buch „Empire“ die Umstrukturierung vom Imperialismus zu einem dezentrierten Herrschaftsapparat, dem Empire. Wenn von Lowtzow diese unscharfen Begriffe zur Beschreibung des Politischen einführt, ist das also auch ein Versuch, mit den flüchtigen, unübersichtlichen, postmodernen Zuständen umzugehen.

Blumfeld sind auf ihrem letzten Album mit dem Song „Diktatur der Angepassten“ entgegengesetzt vorgegangen, in dem sie in einer schon absurd-direkten Sprache das Affirmative geißelten. „Vielleicht sind die so ein bisschen den umgekehrten Weg gegangen. Unser Stück ,Sie wollen uns erzählen‘ ist thematisch ganz ähnlich und hat sich auch an klassischen Protestsong-Formaten abgearbeitet.“

Neue Inhalte erfordern auch neue Herangehensweisen. Keine Polaroid-Produktion, sondern konzentriertes Arbeiten über einen langen Zeitraum. So verbrachten Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank insgesamt etwa anderthalb Jahre im Eletric Avenue-Studio in Hamburg. Das hatte auch Auswirkungen auf die Perspektive der Texte. „Ich“, das häufigste Wort auf früheren Tocotronic-Alben, ist auf „Tocotronic“ einem „wir“ gewichen. „Ich wäre mir blöd vorgekommen, die Texte alle aus einer Ich-Perspektive zu schreiben“, so von Lowtzow, „schließlich haben wir das Album workshopartig erarbeitet und die ganze Zeit zusammen im Studio gesessen.“

Am „Tocotronic“-Workshop nahm als Ko-Autor und Musiker auch Studiobesitzer Tobias Levin teil, der sich zuletzt als Produzent von Surrogat und Kante einen Namen machte. Heraus kam am Ende das, was man, mit einem Song von der „This Boy Is Tocotronic“ – Single in Anlehnung an Jean-Luc Godard „Hi-Fi Science-Fiction“ nennen könnte. Das klingt dann wie eine Band, die an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geht, ja teilweise für sich neue Grenzen setzt; Der Sound gerät flächiger und leichter und erinnert an einigen Stellen gar an die Pop-Meisterwerke von Scritti Politti.

Die Verwandlung Tocotronics beschränkt sich jedoch nicht auf den musikalischen Bereich. Die Promotion-Aktivitäten für „Tbcotronic“ wurden mehr als zwei Monate vor die Veröffentlichung des Albums gelegt, um die relativ lange Vorlaufzeit so mancher Mädchen- und Jungfrauenzeitschrift einzuplanen. Let there be pop!

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