Vorstadtkrokodile auf Heimaturlaub

Nach dem kommerziellen Durchbruch ließen Arcade Fire sich dreieinhalb Jahre Zeit, um vom Pophimmel wieder auf den Boden der Tatsachen herab zu steigen.

Arcade Fire waren die größte Band des Planeten. Jedenfalls fühlte es sich so an, vor drei Jahren ihr zweites Album „Neon Bible“ erschien. Diese überwältigende Emphase aus sieben und mehr Kehlen, diese mit heiligem Ernst vorgetragenen Hymnen, wie es sie seit U2s „The Unforgettable Fire“ nicht mehr zu hören gab, diese Wucht, dieses Pathos, diese Dringlichkeit – und dieser Erfolg. Platz zwei in den USA und England. Und das ohne einen großen Konzern im Rücken („Neon Bible“ und der bereits von der Kritik gefeierte Vorgänger „Funeral“ erschienen beim Indie-Label Merge). Mit dem nächsten Album, das war allen Beobachtern klar, könnte aus dem Gefühl eine Gewissheit werden: Arcade Fire sind die größte Band des Planeten.

Doch die sieben Musiker nahmen sich Zeit für ihren nächsten großen großen Coup. Nach Jahren des Umherreisens und Spielens kam das Kollektiv um das Songwriter-Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne im heimatlichen Montreal erst mal zur Ruhe. Ein Leben abseits von Rummel und Ruhm, mit Tag und Nacht, Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ein Zuhause zu haben und einen Ortssinn. Ein neues Verhältnis zu Raum und Zeit. Das veränderte ihren Blick auf die Welt.

Win Butler, der grüblerische Kopf der Band, der seine Stimme in neil-youngsche Höhen und springsteensche Tiefen dirigieren und, wenn nötig, unter kräftigem Leidensdruck erzittern lassen kann, will die großen Erwartungen nicht gespürt haben, die nach dem Erfolg von „Neon Bible“ auf Arcade Fire lasteten. „Mir fallen nicht viele Bands ein, die es in dieser Hinsicht besser haben als wir“, meint er. „Unser Label lässt uns in Ruhe, wir können ins Studio gehen, wann immer wir wollen. Und es kostet uns nicht mal was, weil es unser eigenes ist. Und die Fans hier in Montreal sind alle höflich und nett. Den großen Rummel, der um uns herum entstanden ist, spürt man hier nicht.“

Der Anreiz, die Auszeit zu beenden und wieder produktiv zu werden, musste also aus einer anderen Richtung kommen. Und er kam in Form eines Briefes, der eines Tages in die eheliche Wohnung von Win und Régine flatterte. Aus The Woodlands, einem Vorort von Houston, Texas, in dem der heute 30-jährige Butler und sein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder, der Arcade-Fire-Bühnen-Derwisch William, aufgewachsen sind. „Der Brief war von einem Freund aus der Junior High“, erzählt Butler. „Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Aber er hatte ein Bild von sich mit seiner kleinen Tochter auf der Schulter beigelegt. Er stand vor der Mall in unserer alten Nachbarschaft.“

Und plötzlich war aus dem Wahlkanadier Butler wieder ein Texaner geworden. „Ich lebe jetzt seit zehn Jahren in Montreal und ich bin aus Houston weggezogen, als ich 15 war“, erklärt er. „Aber dieses Bild brachte viele Gefühle aus meiner Zeit in Texas zurück. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie das damals war, wo wir mit unseren Rädern rumgefahren sind und so. Ich wollte mich so genau wie möglich an die Stadt erinnern. Und das hat bei mir all diese Gedanken ausgelöst. Ich war fest entschlossen, Kontakt zu meiner Kindheit aufzunehmen.“

„The Suburbs“ hieß der erste Song, den Butler und Chassagne einige Monate nach dem Ende der „Neon Bible“-Tour im Februar 2008 und ein paar Tage nach Eintreffen des Briefes schrieben. „In the suburbs, I learned to drive/ And you told me, I’d never survive/ Grab your mother’s keys, we’re leaving.“ Ein federnder Rhythmus und ein Synthesizerteppich unter Butlers elegischer Stimme, ein Fistelrefrain: „Sometimes I can’t believe it/ I’m moving past the feeling.“ Nostalgie und suburban angst – eine Mischung aus „Born To Run“ und Richard Yates.

Der Weg in die innere texanische Kindheit war für Butler keineswegs ein Heimweg. „Als ich klein war, sind wir aus einer Hippie-Kommune im Norden Kaliforniens nach Texas gezogen“, erklärt er verdruckst. „Ich erinnere mich, wie ich aus dem Flugzeug stieg und in diese stickige, feuchte Luft gelaufen bin wie vor eine Wand. Nicht nur für meine Eltern, die vorher viel Zeit an der frischen Luft verbracht hatten – das war irgendwie ein wichtiger Teil ihrer Beziehung – war der Umzug eine große Umstellung. Wir verbrachten die Tage plötzlich vor allem in klimatisierten Räumen.“

Der Ort sei der falsche gewesen, die Kindheit aber dennoch die richtige, ist sich Butler sicher. „Ich glaube, mein Bruder und ich hatten alles in allem eine glückliche Zeit, aber es gab immer diese Ahnung, dass wir woanders sein sollten als dort, wo wir waren. Wir fühlten uns wie Touristen in unserer eigenen Kindheit.“ Jeder andere hätte nach einem solchen Bonmot verzückt gelächelt, oder überrascht aufgelacht – Win Butler bleibt Ernst. „Es geht mir um die Erfahrung, nicht darum, sie zu bewerten“, sagt er. „Wenn ich in den Appalachen aufgewachsen wäre, hätte ich darüber geschrieben.“

„The Suburbs“ gab die Richtung für die weitere Arbeit vor und wurde schließlich auch der Titelsong, der die neue Platte eröffnet und beschließt. Wie in einem Film tauchen einzelne Motive aus dem Stück im Verlauf des Albums immer wieder auf. Und trotzdem ist „The Suburbs“ keine rein nostalgische Reise in die Kindheit, sondern steht im Gegenteil sehr im Hier und Jetzt. Natürlich ist es – wie schon „Neon Bible“ – wieder der Blick eines in Kanada lebenden Künstlers auf sein Heimatland, die USA. Auf den konservativen Lone Star State, in dem einst Bush Senior und Bush Junior ihre politischen Karrieren begannen, und auf den Neuanfang und Aufbruch, den Obama-Anhänger Butler mit der neuen Regierung verbindet.

Besonders interessant er-scheint an den neuen Songs jedoch Butlers persönlicher Umgang mit der Zeit. Er reist hier nicht zurück in die Vergangenheit, er holt die Vergangenheit in die Gegenwart, um sich nach all der Aufmerksamkeit und den Lobeshymnen, die die Band seit der Veröffentlichung des Debüts „Funeral“ 2004 (Europa musste ein Jahr länger warten) in den Pophimmel hoben, wieder zu erden.

Das war, wenn man Wayne Coyne, glauben darf, auch bitter nötig. Er spielte als Sänger der Flaming Lips einige Konzerte mit Arcade Fire und hatte schon sehr bald, wie er dem amerikanischen Rolling Stone erklärte, „die Schnauze voll von ihrer Wichtigtuerei … Sie behandeln die Leute wie Dreck. Was denken die eigentlich, wer sie sind?“

Sehr wahrscheinlich hat den flamboyanten Flaming Lip vor allem die große Ernsthaftigkeit irritiert, mit der die jungen, auf der Bühne wie eine Mormonensippe gekleideten Leute zu Werke gehen. (Butlers Mutter stammt ja tatsächlich aus einer Mormonen-Familie, doch das habe keine Auswirkungen auf seine Erziehung gehabt, sagt er) .

Der Rückgriff auf die eigene Vergangenheit ist jedenfalls ein bewährtes Mittel aus der Hausapotheke des Pop, um mit den Nebenwirkungen des Ruhms umzugehen. Das findet man schon bei den Beatles, die 1964 unter dem ironischen Titel „Beatles For Sale“, mit Coverversionen den Idolen ihrer Kindheit huldigten und zugleich erstmals mit introspektiven eigenen Kompositionen Selbstzweifel und Ängste ins Rampenlicht stellten.

„Month Of May“, neben dem Titelsong das zweite Stück, das Arcade Fire bereits zwei Monate vor dem Album auf einer 12-inch-Single veröffentlichten, macht exemplarisch deutlich, wie auf „The Suburbs“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhängen. Ein Frühlingswind weht hier durch die Zeiten. Der Song startet im kanadischen Frühling 2009, als die Band in Montreal mit den Aufnahmen zum neuen Album beginnt: „Gonna make a record in the month of May/ When the violent wind blows the wires away …“ Doch dann taumelt das Lied gleich mehrfach ins Präteritum. William Butler wirft ein: „We were shocked in the suburbs“ – sein Bruder singt: „2009, 2010/ Wanna make a record how I felt then/ When I stood outside in the month of May/ And watched the violent wind blow the wires away“. Und schließlich kriegt er den eisigen Windhauch der Vergänglichkeit im Konjunktiv zu fassen: „If I died in the month of May/ Let the wind take my body away.“

Musikalisch hat dieser Song nur wenig vom so charakteristischen Heilsarmee-Sound, den das Septett auf den ersten beiden Alben mit allerlei antikem Instrumentarium erzeugte. Die neuen Songs hätten einfach andere Arrangements verlangt, erklärt Butler. „In, Intervention‘ auf dem letzten Album zum Beispiel ging es um eine starke Erfahrung mit der Kirche. Ein schwergewichtiges Thema, da drängte es sich förmlich auf, eine Kirchenorgel einzusetzen. Neue Stücke wie, Month Of May‘ transportieren ganz andere Gefühle, da ergibt es Sinn, dass die Arrangements etwas einfacher und reduzierter sind.“

Fast ein bisschen trashig klingen die treibenden Gitarren, die sich in „Month Of May“ wipersmäßig unter den Rhythmus schieben. In anderen Stücken mischen sich Referenzen an OMD, ABBA und Depeche Mode mit Neil-Young- und My-Bloody-Valentine-Gitarren. „Falls die Stücke trotz der vielen unterschiedlichen Einflüsse noch wie richtige Songs klingen, ist das schon eine Leistung“, so Butler. „Das ist sicher unsere bisher vielfältigste Platte.“ Alle Bandmitglieder hätten an den Arrangements mitgearbeitet, so Butler, vor allem sein Bruder William sei in den letzten Monat zum wahren Synthie-Wizard geworden.

Aber auch Arcade-Fire-Arrangeur Owen Pallet (früher auch als Final Fantasy bekannt), mit dem Butler und Chassagne auch am Soundtrack für Richard Kellys („Donnie Darko“) neuen Film „The Box“ schrieben, dürfte als großer 80s-Pop-Fan seine Finger im Spiel gehabt haben. Bei Twitter postete er im Oktober letzten Jahres, er habe gerade eine zehntätige Arbeit an dem besten Album, an dem er je mitgewirkt hatte, beendet. Gemeint war selbstverständlich „The Suburbs“.

Um den optimalen Klang für das neue Album zu gewährleisten, haben Arcade Fire die Songs analog aufgenommen, in optimaler Sounddichte für eine Veröffentlichung auf 12-inch-Vinyl gemastered und dann für die, die’s lieber mögen, auf CD transponiert. Butler selbst steht dem Digitalzeitalter immer noch skeptisch gegenüber. Aber er bemüht sich, das zu ändern.

„Die digitale Technologie ist zum Beispiel ein extrem gutes Werkzeug zur Archivierung“, erklärt er. „Ich hab russische Literatur studiert, und das Getty Museum hat diese erstaunliche Sektion auf seiner Website, wo man online durch rare russische Avantgarde-Bücher blättern kann, die so empfindlich sind, dass sie zerfallen würden, wenn man sie anfasste. Da hilft die digitale Technologie also, physische Objekte zu schützen und sie zugleich für alle zugänglich zu machen.“ Hat man auch selten gehört, dass russische Avantgarde-Literatur Eingang in eine Apologie der digitalen Medien findet. Fast entschuldigend fügt Butler hinzu: „Diese Argumentation habe ich mir zurecht gelegt, um Frieden mit der Tatsache zu schließen, dass man ein Jahr an etwas arbeitet und dann taucht es am Ende im Internet als MP3 auf und bleibt dort für immer. Ich versuche einfach, mich mit den seltsamen Zeiten zu arrangieren, in denen wir leben.“

Eine halbe Millionen Käufer sollen Arcade Fire übrigens laut Management durch die Lappen gegangen sein, weil „Neon Bible“ schon vor Veröffentlichung ins Internet leckte. „The Suburbs“ unterlag daher größter Geheimhaltung. Nicht einmal das deutsche Label besaß ein Exemplar. Wer mit der Band sprechen wollte, durfte sich die 16 Stücke zu einer vorher festgelegten Zeit unter Aufsicht einmal per Online-Stream anhören. Songtitel wurden nicht verraten. Ein paar eilige Notizen waren alles, was einem am Ende blieb. Nichts, was in der Frage, ob Arcade Fire denn nun wirklich die größte Band der Welt sind, entscheidend weiter hilft.

„Took a drive into the sprawl“ und „to find the places we used to play“ habe ich in sich hastig bedrängenden Buchstaben unter die Track-Nummer 14 gekrakelt, „living in the sprawl“, „I need the darkness“ und „city lights shine“ steht unter der 15. Außerdem ist vermerkt: „sprawl = Wucherung/Zersiedlung“ und „Wandern durch das Gestrüpp der Erinnerung?“ und „Rückkehr an den Ort der Kindheit“.

Und in der Tat flogen Butler und seine Ehefrau im Sommer letzten Jahres gemeinsam nach Houston, mieteten ein Auto und besuchten The Woodlands. „Ich wollte ihr alles zeigen, all die Orte meiner Kindheit“, erzählt Butler und seine Stimme bricht erst fast nach oben weg und geht dann dramatisch in die Tiefe: „Wir hatten dort ein ziemlich deprimierendes Erlebnis. Wir fanden dieses leere Anwesen mit dem Pool, in dem mein Bruder und ich früher oft geschwommen sind. Wir hielten am Straßenrand an, stiegen aus dem Auto aus und ich machte ein Foto davon. Alles war zugewachsen, und ich dachte noch: Oh Mann, ich kann nicht glauben, dass das alles fort ist. Wir stiegen wieder ins Autor, fuhren los und nach wenigen Metern wurden wir von einem Polizeiwagenangehalten. Ich fragte:, Was haben wir getan? War ich zu schnell?‘ Der Cop schüttelte den Kopf und gab mir diese ganze Texas-Cop-ich-werde-dich-einsperren-Nummer. Ich musste die Scheibe runterkurbeln und aussteigen. Er nahm meinen Führerschein und sagte:, Sie zeigen ein verdächtiges Verhalten.‘ Das war quasi mein Welcome-Home-Moment.“

Ein Texas-Cop versperrt den Weg ins Paradies der Kindheit – ein treffenderes Bild lässt sich vermutlich nicht finden für die an einigen Stellen unheimliche, beklemmende Stimmung auf „The Suburbs“. „Das ist nicht mehr meine Heimat, das ist einfach ein Haufen Gebäude“, sagt Butler. Die meisten Freunde und Bekannten, die er in Texas gehabt habe, seien eh längst weg gezogen. Nur der Freund, der ihm das Foto von sich und seiner Tochter vor der Vorstadt-Mall schickte, wohnt immer noch dort. „Wir haben uns letzten Sommer tatsächlich zum Abendessen getroffen. Ich meine, man wächst mit diesen Leuten auf und ist ihnen in dieser Zeit sehr sehr nahe, teilt viele Erlebnisse und einschneidende Erfahrungen mit ihnen. Und dann wird man älter und entwickelt andere Interessen. Dann verbringt man mehr Zeit mit Leuten, die einem ähnlich sind, die die gleiche Musik hören und die gleichen Bücher lesen. Auch das ist ein Thema der Platte. Ich wollte darüber schreiben, wie es ist, wenn man sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt.“

Butler stutzt. Klingt das arrogant? Wird Wayne Coyne sich zu Wort melden? „Das ist ja eine Erfahrung, die jeder kennt, oder? Und obwohl unsere Leben vollkommen unterschiedlich verlaufen sind, hatten wir uns an diesem Abend immer noch sehr viel zu sagen.“

Die Kindheit lässt einen nicht los.Und wenn Win Butler am Ende von „The Suburbs“ noch einmal den Refrain des Titelsongs schmettert – „Sometimes I can’t believe it/ I’m moving past the feeling again“ – scheint er dabei zu lächeln.

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